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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 19.1906-1907

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Michel, Wilhelm: Jessie M. King - Glasgow
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https://doi.org/10.11588/diglit.9554#0024

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JESS1E M. KING-GLASGOW.

Neuenglische Verfeinerung feiert in Miss
Jessie Kings Arbeiten ihren schönsten
Triumph. Es ist jene selbe Kultur der Sinne,
die einen Oskar Wilde, einen Beardsley er-
möglichte, die sich in der präraffaelitischen
Bewegung ausspricht und die auch dem
modernen englischen Kunstgewerbe seinen
spezifischen, unerreichbaren Reiz verleiht.
Es ist jene Verfeinerung, die der Pfahlbürger
eine Zeitlang als Decadence zu verleumden
liebte, mit dem unausgesprochenen Vorder-
satze, daß nur das Gewöhnliche, das Un-
differenzierte und Grobschlächtige über den
Verdacht des Pathologischen erhaben sei.
Das Urteil über diese Dinge hat
sich inzwischen gewandt, und
das Wort Decadence ist aus dem
Sprachschatze der Entwicklungs-
Feinde verschwunden. Geblieben
aber ist uns die Sache. Das
Beispiel der Japaner hat selbst
den Blindesten die Augen darüber
geöffnet, daß Verfeinerung noch
lange keinen Gegenbeweis gegen
die Lebenskraft einer Kunst,
einer Rasse bedeutet.

So sehen wir denn in Jessie
M. Kings Zeichnungen und Aqua-
rellen die Linien zag und zitternd
werden, die Farben zu einem
sachten Schmelz herabsinken und
alle Dinge in ein Märchenlicht
hineintreten. Die zarten Punkt-
reihen, die sie nach Beardsleys
Vorgang als einfachstes Mittel
zur Erzeugung weicher, duftiger,
hauchartiger Wirkungen verwen-
det, setzen sich fast in den Ge-
hörs-Eindruck des Flüsterns um.
Jedes laute, kräftige Wort wird
vermieden und gilt fast als eine
Sünde. Diese Kunst spricht aus-
schließlich zu modernen Nerven,

die feineren, verschwiegenen Reizen zu-
gänglich geworden sind, denen man mit
einer zarten, unwirklich zarten Andeutung
mehr sagt als mit Worten, die allen In-
halt schonungslos und eindeutig erschöpfen.
Diese Zartheit, diese liebenswürdige Sen-
timentalität hat die neuenglische Kunst
mit der Kunst der Primitiven gemeinsam.
Sie ist keusch und zurückhaltend wie diese,
liebt das Erratenlassen, flieht die Wirk-
lichkeit und redet von Sehnsucht lieber als
von Erfüllung, von Vergangenheit lieber als
der Gegenwart, von der Blüte lieber als von
der Frucht. Alte Mären vom Gral, von

1907. I. 3.

miss jessie m. king. nach kinkr photographie.

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