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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 24.1909

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Schaukal, Richard: Aus einem Brief an das 18. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.7005#0217
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FRITZ OSSWALD MÜNCHEN.

Gemälde: »Tannenschonung«.

AUS EINEM BRIEF AN DAS 18. JAHRHUNDERT.

Lieber Diderot, lieber Cazotte, lieber Cham-
_j fort, lieber Rivarol, ahnet Ihr und Ihr andern
alle, deren Sprache ich spreche, deren Gedanken
ich denke, deren Geist mir wie eine leicht und
köstlich zu atmende Luft ist, ahnet Ihr, was
ich leide in dieser unbeschreiblich gemeinen
Zeit? Ihr Arglosen ahnt es nicht; denn es ist
das ungeheuerlichste Märchen, das ein Galland
Euch aus dem andern Arabischen unserer
Epoche in Eure wunderbare Sprache zu über-
setzen zögerte, Euch, selige Wandler an Ab-
gründen, in die dann alles gestürzt ist, was
uns Enterbten, Entblößten Kultur heißt.

Vernehmt schaudernd, wie der Tag Eures
armseligen Nachfahren verläuft — woran das
Bemerkenswerteste das ist, daß neben ihm

Hunderttausende sich eigentlich wohl fühlen!
— Er erwacht müde, erhebt sich mit allem
Aufwand an notwendiger Energie — auf solche
Dinge, wie das Aufstehen, geht heut die
Energie drauf, die damals etwa in einem
Degenstoß sich entlud; zehn Lebensjahre für
solch einen Degenstoß, der durch und durch
ginge! —; er setzt sich an den Toilettetisch,
sich zu rasieren. Was grinst ihm ins Fenster
im grellen Morgenlicht r Eine Fassade . . .
Ahnt Ihr, Begnadete, was uns paar Gemar-
terten heute eine Fassade heißt ? Ihr ahnt
es nicht. Lasset mich davon schweigen.
Etwas Gemeineres gibt es nicht, hat es nie
gegeben. Was sind Menschenopfer von Kanni-
balen gegen den Kannibalismus unsrer Groß-

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