Vom Plakat als Erzieher des Kunstsin,
professor emanuel v. seidl- münchen.
haus aug. prym in stolberg. situationsbild.
die Renaissance war eine ephemere Erschei-
nung. Das Formprinzip Italiens war uns im
Grunde ebenso fremd wie der malerische Im-
pressionismus Frankreichs. Unser Impressio-
nismus ging von jeher auf Expressionismus des
Ausdrucks. Impressionismus: oder was wir so
nennen, war nur latenter Expressionismus, wie
der romanische Stil latente Gotik war.
£
Warum ich das sage? Erstens, um damit fort-
zufahren, daß die jetzt nicht mehr unverstan-
denen Bilder des Impressionismus nicht geeignet
sein können, ohne weiteres den gewöhnlichen
Kunstsinn zu erziehen. Und zweitens, umbei der
Gelegenheit noch einmal zu wiederholen, daß
unsere große Kunst zu viel Prämissen verlangt,
denn daß sie als Mittel zur Erziehung von Laien
dienen könnte. Wir müssen uns dazu nach
künstlerischen Beispielen umsehen, die mit der
leichten inhaltlichen und formalen Faßbarkeit
das Typische des modernenDeutschlands verbin-
den. Wir finden sie im Bezirk der Plakate. Die
Kunst hat sich gewissermaßen durch die Ego-
zentralisierung so differenziert, daß sich notwen-
dig eine deutlich getrennte Vorstufe abgebogen
hat, die zu der Hochschule des Kunstsinnes führt.
Die deutsche Kunst ist von jeher im Grunde
linear, und nicht malerisch farbig orientiert ge-
wesen. Da wir uns wohl nicht verkehrt haben,
wird uns wohl nur eine moderne Kunst-Ent-
wicklung konform sein, die zur Abstraktion
auf das Lineare gelangen will. Diese Bedingung
ist im Plakat erfüllt. Es deckt damit auch das
nichtseelische Ressort der modernen Großstadt,
das rein landschaftlich-ästhetische. Denn das
Wesen der Großstadt ist linear, auf dem Duk-
tus der Perspektiven, dem Spiel und Widerspiel
ihrer manchmal in den Linien grotesk verscho-
benen Aspekte beruhend. Und wenn eine
höhere Einheit zwischen der Straße und dem
Menschen besteht, der seine Gedanken in ihr
herumträgt, so ist das Plakat nicht auszuschal-
ten. Hier ist das typische Beispiel für die
künstlerische Formulierung einer Zeit, zu dem
der Mensch von heutzutage historisch nicht
weit hat, denn sie ist von seinem Geiste. Das
Plakat ist als Hinweis auf den Pol ihrer Ästhetik
überall anwendbar auf die Erscheinungen der
Zeit, denn sein Inhalt ist theoretisch unbegrenzt.
An seiner extrem auf das künstlerisch Primäre
absehenden Form mag der Mensch lernen, wie
er die Erscheinungen künstlerisch überwältigt.
Im intensiven Umgang mit ihr kann das künst-
lerische Sehen freie Funktion des Sehens über-
haupt werden. p- mahlberg.
£
Die Menschen nehmen die Dinge der Kunst
immer noch und immer als etwas Entbehrliches und
Überflüssiges! Anstatt zu verstehen endlich, daß sie
das Le^te sind ihres ganzen Daseins! — Sie reden
von Kunst, wie von etwas, das sein eigenes Leben
für sich lebt — außerhalb des ihren! — Wie sie alles
auf allen Gebieten loslösen, aus seinen Zusammen-
hängen, anstatt es als Eines zu erfassen und sich selbst
eins mit ihm zu fühlen! — Kunst ist für alle immer
noch und immer nur etwas, das an den Wänden hängt
als Schmuck — oder als kostbarer Schrein in ihren
Zimmern steht — oder als schön gebundenes Buch auf
einem Tische liegt .... Statt, daß sie es still für
sich in ihren Seelen wirksam werden lassen, und zur
Tat in ihren Händen und zu festem Boden unter ihren
Füßen und zu Haus und Heimat! Cäsar FUischlen.
203
professor emanuel v. seidl- münchen.
haus aug. prym in stolberg. situationsbild.
die Renaissance war eine ephemere Erschei-
nung. Das Formprinzip Italiens war uns im
Grunde ebenso fremd wie der malerische Im-
pressionismus Frankreichs. Unser Impressio-
nismus ging von jeher auf Expressionismus des
Ausdrucks. Impressionismus: oder was wir so
nennen, war nur latenter Expressionismus, wie
der romanische Stil latente Gotik war.
£
Warum ich das sage? Erstens, um damit fort-
zufahren, daß die jetzt nicht mehr unverstan-
denen Bilder des Impressionismus nicht geeignet
sein können, ohne weiteres den gewöhnlichen
Kunstsinn zu erziehen. Und zweitens, umbei der
Gelegenheit noch einmal zu wiederholen, daß
unsere große Kunst zu viel Prämissen verlangt,
denn daß sie als Mittel zur Erziehung von Laien
dienen könnte. Wir müssen uns dazu nach
künstlerischen Beispielen umsehen, die mit der
leichten inhaltlichen und formalen Faßbarkeit
das Typische des modernenDeutschlands verbin-
den. Wir finden sie im Bezirk der Plakate. Die
Kunst hat sich gewissermaßen durch die Ego-
zentralisierung so differenziert, daß sich notwen-
dig eine deutlich getrennte Vorstufe abgebogen
hat, die zu der Hochschule des Kunstsinnes führt.
Die deutsche Kunst ist von jeher im Grunde
linear, und nicht malerisch farbig orientiert ge-
wesen. Da wir uns wohl nicht verkehrt haben,
wird uns wohl nur eine moderne Kunst-Ent-
wicklung konform sein, die zur Abstraktion
auf das Lineare gelangen will. Diese Bedingung
ist im Plakat erfüllt. Es deckt damit auch das
nichtseelische Ressort der modernen Großstadt,
das rein landschaftlich-ästhetische. Denn das
Wesen der Großstadt ist linear, auf dem Duk-
tus der Perspektiven, dem Spiel und Widerspiel
ihrer manchmal in den Linien grotesk verscho-
benen Aspekte beruhend. Und wenn eine
höhere Einheit zwischen der Straße und dem
Menschen besteht, der seine Gedanken in ihr
herumträgt, so ist das Plakat nicht auszuschal-
ten. Hier ist das typische Beispiel für die
künstlerische Formulierung einer Zeit, zu dem
der Mensch von heutzutage historisch nicht
weit hat, denn sie ist von seinem Geiste. Das
Plakat ist als Hinweis auf den Pol ihrer Ästhetik
überall anwendbar auf die Erscheinungen der
Zeit, denn sein Inhalt ist theoretisch unbegrenzt.
An seiner extrem auf das künstlerisch Primäre
absehenden Form mag der Mensch lernen, wie
er die Erscheinungen künstlerisch überwältigt.
Im intensiven Umgang mit ihr kann das künst-
lerische Sehen freie Funktion des Sehens über-
haupt werden. p- mahlberg.
£
Die Menschen nehmen die Dinge der Kunst
immer noch und immer als etwas Entbehrliches und
Überflüssiges! Anstatt zu verstehen endlich, daß sie
das Le^te sind ihres ganzen Daseins! — Sie reden
von Kunst, wie von etwas, das sein eigenes Leben
für sich lebt — außerhalb des ihren! — Wie sie alles
auf allen Gebieten loslösen, aus seinen Zusammen-
hängen, anstatt es als Eines zu erfassen und sich selbst
eins mit ihm zu fühlen! — Kunst ist für alle immer
noch und immer nur etwas, das an den Wänden hängt
als Schmuck — oder als kostbarer Schrein in ihren
Zimmern steht — oder als schön gebundenes Buch auf
einem Tische liegt .... Statt, daß sie es still für
sich in ihren Seelen wirksam werden lassen, und zur
Tat in ihren Händen und zu festem Boden unter ihren
Füßen und zu Haus und Heimat! Cäsar FUischlen.
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