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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 39.1916-1917

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Wolzogen, Ernst von: Grossherzog Ernst Ludwig als Wecker und Förderer künstlerischer Bestrebungen: anlässlich des 25 Jährigen Regierungs-Jubiläums. 13. März 1917
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https://doi.org/10.11588/diglit.8535#0375
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erneuerung in die Nachahmung längst historisch gewordener Stilperioden bei jedem
obrigkeitlich festgelegten Schulbetrieb schier unvermeidlich sei. Darum wollte er es
einmal mit dem geraden Gegenteil versuchen. Die kecke Tat und die Erfahrungen
über ihren Erfolg sollten allein richtunggebend sein.

Neuartig wie die Berufung so verschieden gearteter werdender Talente zu
selbstherrlichem Schaffen war auch der, der ersten Ausstellung dieser Kolonie zugrunde
liegende Gedanke: Keine museumsmäßige Zurschaustellung von Gegenständen, keine
Verkaufsstände wurden unter dem Schlagwort „Ein Dokument deutscher Kunst" 1901
vorgeführt. In Wirklichkeit war es freilich nicht die deutsche Kunst, die 1901 auf
der Darmstädter Mathildenhöhe zu sehen war, sondern Persönlichkeitsdokumente von
sieben deutschen Künstlern, die sich ihre Häuser selbst gebaut, oder wenigstens nach
ihren Sonderwünschen hatten bauen lassen, und die gesamte Einrichtung von Tapeten,
Möbeln, Stoffen, Gerätschaften, Schmuck- und Gebrauchsgegenständen selbst entworfen
und von hessischen Fabriken und Handwerkern hatten ausführen lassen. Der Erfolg
dieser Ausstellung war ein ganz außergewöhnlicher. Nicht als ob die zahlreichen
auswärtigen Besucher, oder auch nur die geschäftlich dabei interessierten einheimischen
Kreise widerspruchlos alles bejubelt hätten, was ihnen jene sieben Neuroner verlockend
vorflöteten; nicht als ob mit einem Schlage die älteren Bestrebungen zur Durchseßung
einer zeitgemäßen Geschmackskultur auf kunstgewerblichem Gebiete, wie sie in
München, Wien, Dresden und anderwärts auch schon gepflegt wurden, von Darmstadt
überholt worden wären — im Gegenteil: der Chor der höhnischen Lacher, der
mißvergnügt Grollenden übertönte recht laut den freudig gespendeten Beifall der
begeisterten Minderheit. Nicht nur dem gesamten Spießertum, sondern auch einem
großen Teil der Künstlerschaft bedeutete jenes „Dokument deutscher Kunst" ein
Ärgernis. Auch die wohlwollenden Besucher konnten es unmöglich übersehen, daß
gerade die genialsten unter den Kolonisten ihre Unreife in den hohen Fieber-
temperaturen der Kinderkrankheiten austobten. Alle Welt lachte über Olbrichs
„Blaues Wunder" (Spottname für ein mit blauen Kacheln verziertes bizarres Privat-
haus), über desselben buntbemalte Pylonen, die an die wilden Schnißereien der
Südseeinsulaner erinnerten, über Christiansens Farbenorgien an und in seinem Haus
„In Rosen" und seine fest eingebauten Kinderbetten, die seinen Sprößlingen das
Wachstum verwehrten, über die hieratisch kalte Feierlichkeit des Behrens-Hauses und
über die dunkelblaue Festspielbaracke, deren Inneres einem gepolsterten Besteckkasten
glich. - Die Gesamtleistung aber konnte dieses Gelächter ohne Schaden ertragen,
weil dem offenbar Verfehlten gar so viel glänzend Gelungenes, Zukunftsicheres gegen-
überstand. Ja selbst das finanzielle Defizit machte sich reichlich dadurch bezahlt,
daß auf dieser ersten Ausstellung der Begriff „Darmstädter Kunst" zur Welt geboren
ward und die Befruchtung des hessischen Kunstgewerbes sich als nachhaltig erwies.
Es war nicht nur der Ehrgeiz des jungen Fürsten befriedigt, sondern seinem Lande
neue Quellen des Wohlstandes erschlossen worden. Zudem hatte die junge Kunst durch
diese Ausstellung eine ungeahnte Stärkung erfahren. So mag es denn als ein großer
ideeller Erfolg gedeutet werden, daß alsbald fast alle deutschen Kunstgewerbeschulen
reformiert und mit neuzeitlich schaffenden Lehrkräften beseßt wurden. Andere ähnliche
Ausstellungen erfolgten in Turin, Dresden, München und Oldenburg, und wenn heute
 
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