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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 46.1920

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Duve, Helmuth: Geschmacks- und Werturteile: Grundsätzliches zur Kunstkritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7200#0191

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GESCHMACKS- UND WERTURTEILE.

GRUNDSÄTZLICHES ZUR KUNSTKRITIK.

Zur Beurteilung von Kunstwerken sind zwei
Gesichtspunkte wesentlich: DerGeschmack
des Urteilenden und das Nacherleben des Kunst-
werkes im Geiste des Urteilenden. Für das
erstere zivilisatorische Moment ist der Bil-
dungsgrad des Kritikers maßgebend, für das
zweite, kulturelle, die Intensität seiner Erleb-
niskraft. Es ist festzustellen, daß in Zeiten, wo
das zivilisatorische Moment ausschlaggebend
war, das kulturelle zurückgedrängt wurde, d. h.
die Kritik, deren Urteil vom Zeitgeschmack
gestempelt wird, besitzt nicht Freiheit genug,
um künstlerische Erlebnisse in ihrer ganzen
Größe restlos in sich aufzunehmen und zu
bewerten. Sie wird sich darauf beschränken
müssen, die technischen Grundelemente eines
Kunstwerkes auf analytischem Wege (d. h. durch
Zersetzung des Ganzen in seine Bestandteile)
zu finden. Die Schale erscheint ihr wesent-
licher als der Kern, und sie wird, wenn es
sich darum handelt, zu einem impressionisti-
schen und zugleich zu einem expressionistischen
Bilde Stellung zu nehmen, eines von beiden ab-
lehnen müssen, weil sie das Stilistische dog-
matisch (d. h. nur von sich aus) beurteilt. Eine
solche Kritik vermag letzthin nur subjektive
Urteile hervorzubringen.

Der wahre Kritiker sieht im Kunstwerk et-
was objektiv Gegebenes; für ihn ist es das na-
turnotwendige Produkt der geistigen Totalität.
Bei dieser Auffassung erweist sich der Ge-
schmack als ein trügerischer Wertmesser. Es
kommt vielmehr darauf an, den künstlerischen
Instinkt reagieren zu lassen. Dies kann positiv
oder negativ geschehen, insofern nämlich, als
sich der Betrachter des Kunstwerks durch das-
selbe angezogen oder abgestoßen fühlt. In bei-
den Fällen kommt ein Erlebnis zustande, denn
der Geist seines Schauens ist demütig. Je nach
der Stärke der Reaktion ist ein Kunstwerk
höher oder niedriger zu bewerten.

Der Kritiker muß also, will er der Wahrheit
die Ehre geben, anerkennen, daß ein Bild, wel-
ches seinem Geschmack widerspricht — ihm
also schlecht erscheint —, welches hingegen
seinen Instinkt zu fassen vermag, dennoch ent-
schieden künstlerisch ist. Sein Urteil lautet
deshalb nie schön oder schlecht (angenehm oder
unangenehm), sondern nur stark oder schwach,
künstlerisch oder unkünstlerisch. Objektive
Kritik steht jenseits von Gut und Böse. Eine
Geschmackswertung wie „schön", „erhaben",

„geschmackvoll" rührt aus der harmonischen
Weltanschauung des Griechentums her und ist
voreingenommen. Wahrhafte Kritik aber darf
sich nie nur einer Weltanschauung verpflich-
ten, ebensowenig auf eine vom Standpunkt des
Geschmacks vielleicht verständliche Vorliebe für
einen bestimmten Stil sich gründen, sondern
muß allumfassend und großzügig sein, überall
die geistigen Faktoren ausschlaggebend sein
lassen. Es kann sich beim Urteil auch kaum
darum handeln, den tatsächlichen Wert eines
Kunstwerks festzustellen. Dieses richtet sich
in Wahrheit selbst: nämlich im Kampf der
schöpferischen Geisteswerte, aus dem (dem
Gesetz der geistigen Zuchtwahl zufolge) nur
das Starke siegreich hervorgeht.

Damit ist die Beschränkung alles kritischen
Erkennens scharf gekennzeichnet. Überhaupt
hat die Kritik im künstlerischen Leben keines-
wegs die Bedeutung, die ihr gemeinhin beige-
messen wird, und sie verdammt sich zur Be-
deutungslosigkeit, sobald sie ihre Grenzen nicht
erkennt, autokratisch wird und es ihr an der
nötigen Ehrfurcht vor der künstlerischen Schaf-
fenskraft fehlt. Schopenhauer sagt einmal, daß
man vor Kunstwerke hintreten müsse wie vor
Fürsten, um abzuwarten, was sie einem zu sagen
haben. Diese Bescheidenheit wird von den
meisten Kritikern leider außer acht gelassen.
Sie sind Pharisäer genug, das eigene Ge-
schmacksurteil mit stillschweigender Selbstver-
ständlichkeit als objektiv maßgebend hinzu-
stellen und zu glauben, ihrerseits ein Wesent-
liches zur Durchsetzung eines Kunstwerks bei-
tragen zu können. Statt Diener der schöpferi-
schen Kräfte zu sein, sind sie Diktatoren der-
selben. Sie begeben sich dadurch der Möglich-
keit eines Konnexes zwischen sich und dem See-
lischen, finden ihre Hauptaufgabe darin, festzu-
stellen, inwieweit die Organisierung der Formen
und die Differenzierung der Farben im Bilde den
Gesetzen entspricht, die sie (weil sie ihnen kon-
form sind) als maßgebend ansehen und die sie
am liebsten dem Künstler aufzwingen möchten.

Wenn die Kritik überhaupt einen Zweck hat,
so kann es nur der sein, daß sie nach^bestem
Wissen und Gewissen die Wege zu den Quellen
des Geistes zu weisen sucht, indem sie sich da-
bei stets der Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit
bewußt ist und unbefangen den Grad des instink-
tiven Nacherlebens in ihrem Urteil aufklingen
läßt. So und nur so erfüllt sie ihre Aufgabe
 
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