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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 46.1920

DOI Artikel:
Ritter, Heinrich: Die Kunst und ihr Publikum, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7200#0199

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Die Kunst und ihr Publikum.

listen oder die Nazarener historisch geworden
sind. Die Zeit aber, der Moment Leben, den
unsere heutige Sonne bescheint, spricht nicht
mehr durch seinen Mund; er hat sich ein an-
deres Sprachrohr geschaffen, weil ihm das alte
nicht mehr tauglich war. Der Impressionismus
hat Ewiges hervorgebracht aus der Begeisterung
über dem Problem der Luft, des Lichtes, des
vertieften, sinnlichen Naturgefühls. Nie vorher
floß Landschaft so üppig und paradiesisch frisch
in den Bannbezirk des Goldrahmens wie in
dieser Zeit. Heute haben die Probleme des
Impressionismus ihren Entwicklungswert, ihre
Triebkraft, ihre Zeitbedeutung, ihre weltan-
schauliche Wichtigkeit verloren.

Heute handelt es sich brennend darum, den
Menschen, sein Gefühl, sein Leiden und Zwei-
feln, seine Begeisterungen und Frömmigkeiten,
als Maß aller Dinge wieder in den Mittelpunkt
des Weltbildes zu rücken. Es ist ein anderes
Wollen, ein anderes Müssen da, und dieses
prägt der Expressionismus aus. Er flieht die
treue Schilderung der Natur, weil er gerade
das Nicht-Natürliche, den Menschen und seine
ganze ungeheure fremdartige Geistwelt, heraus-
stellen will. Er ist die äußerste Reaktion gegen
die sinnlich-geistige Naturfrömmigkeit des Rea-
lismus, Naturalismus, Impressionismus. Und
nur aus der Heftigkeit dieser Reaktion heraus
kann sein fast verzweifeltes Wehren gegen
Naturversklavung richtig verstanden werden.
Es mag sein, daß er mit diesem Wehren weit
übers Ziel schießt. Es ist sogar sicher, daß er
dies tut. Aber dies eben ist die Weise, in der
die Menschheit sich überhaupt entwickelt: Das
Pendel schwingt stark nach der einen Seite; es
muß ebenso stark nach der andern schwingen, bis
Zeiten kommen, da es sich ruhiger um die gesetz-
gebende Schlichtheit der Senkrechten bewegt.

Das Ideal ist selbstverständlich, daß die Kunst
die Menschen- und Geistwelt darstelle in inniger
Angeschmiegtheit an die seiende Natur- und
Körperwelt. Es ist ganz sicher Art eines inner-
lichverstörten Zeitgeistes, diesen heftigen Krieg
gegen äußere Naturform zu führen. Aber erst
Zeiten, die innerlich befriedet und ruhig geworden
sind, können diesen Krieg aufgeben. Diesen Zei-
ten eines ruhigeren, tief frommen und gesättigten
Lebensgefühls nähern wir uns gewiß. Aber der

Weg zu ihnen kann nicht schwindelhaft über-
sprungen oder auf Fausts Wunschmantel zurück-
gelegt werden. Er muß redlich gegangen
werden, Schritt für Schritt, Etappe nach Etappe.
Wer das Ziel will, muß auch die Etappe wollen.
Das gilt im Künstlerischen wie im Zeitpsycho-
logischen. Künstlerisch kommen wir her von
Epigonentum und von geistfremdem Naturalis-
mus. Wir müssen schrittweise den Weg zur
Vergeistigung gehen, und auf diesem Weg ist
der Expressionismus eine der letzten und wich-
tigsten Etappen. Zeitpsychologisch kommen
wir her von einer grenzenlosen Depossedierung
des Menschen aus seinem geistigen Erbe. Denn
Naturwissenschaft und Technik haben uns Ma-
terialismus und geistige Barbarei gebracht,
haben den Menschen zum Fremdling gemacht
inmitten einer Welt, die nur ihm gehört. Wir
reißen diese Welt geistig nun wieder an uns,
mit heftigen Gebärden, und eine wichtige, ent-
scheidende Phase dieses Kampfes um die gei-
stige Welteroberung ist der Expressionismus.

So müssen diese Dinge verstanden werden.
Und deshalb gilt es für den Laien, mit dem
Künstler jederzeit zum Umschwung bereit zu
sein. Denn der Künstler steht unterm Zwange
der Zeit wie der Laie. Der Künstler arbeitet
für uns alle, wenn er kühn vorandringt, auch
für den, der ihn meint ablehnen zu können.
Geben wir ruhig zu, daß wir gegenwär-
tig noch nicht in einer Zeit leben, da
eine Kunst von breiter, umfassender
Volkswirkung möglich ist. Daran ist der
Künstler so wenig schuld wie der Laie, der ihn
kritisiert. Oder beide zugleich. Das Muß der
Zeit steht über uns allen. Wir wissen solange
von der Kunst nichts, als wir sie nicht be-
greifen als wesentliche, unaufhörliche Umwäl-
zung. Wollen wir am Werden der Kunst teil-
nehmen, so müssen wir uns klar sein, daß dies
ein Teilnehmen an einem Bewegen, an einem
Entwickeln ist. Kunst ist Leben, und Leben
wechselt von Einatmen zum Ausatmen, vom
Steigen der Woge zu ihrem Sinken, Zielen ent-
gegen, die wir ahnen und erwünschen können,
die aber nur dann sich verwirklichen, wenn
sie von allen herangelebt werden in einer
ungeheuren Zusammenfassung der edelsten

Kräfte................ HEINRICH RITTER.

XXIII. Juli 1920. 4
 
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