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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 46.1920

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Michel, Wilhelm: Hunger nach Materie
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https://doi.org/10.11588/diglit.7200#0296

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MAURICE UE VLAMINCK.

»STILLEBEN« GAUREB FLHCHTHEt.M.

HUNGER NACH MATERIE.

VON WILHELM M[CHF.L.

Ein Merkmal des heutigen Geistbetriebs ist
die Stofflosigkeit.
Wir sehen im Bereich des Schrifttums un-
geheuere Erkühnungen des Geistes. Die Wert-
setzungen wirbeln, die Standpunkte verschieben
sich unaufhörlich, die ganze Werkstatt des Gei-
stes dröhnt von zyklopischem Bemühen. Aber
sieht man näher zu, so ist die wirkliche Um-
arbeitung an Welt und Stoff gering. Die Sub-
jekte glänzen auf in funkelnder Bewegtheit der
Einstellungen. Aber sie reißen wenig an derbem
Stoff mit. Es ist mehr Wollen und Können in
dieser Gymnastik als Müssen. Die Kühn-
heiten brausen leer hin durch einen Raum ohne
Widerstände. Das Verpflichtende, das Fest-
legende der geistigen Äußerung wird nur
schattenhaft gefühlt. Das endet schließlich bei
einem wahren Überdruß am bloßen Intellekt.

Das Wort kann gewiß tathaft sein. Aber nicht
alles Wort ist Tat. Tathaft wird es nur da, wo
es heraufkommt aus starker Empfindung der
Realitäten, wo es die Widerstände nicht tänze-

risch umgaukelt, sondern ernsthaft überrennt,
wo es gebunden ist an das innere Müssen des
Menschen, wo es festlegt und verpflichtet. Wir
haben heute eine ungeheuere Fülle an Geist;
aber Geist, der nicht eingeschaltet ist als Motor
in ein Getriebe. Die äußerste Folgerung daraus
ist der Dadaismus, der bewußt auf jede Be-
ziehung zu einem Objektiven verzichtet und
affenhaft in die Luftleere der kosmischen Clow-
nerie klettert. Eine sehr zuträgliche Übung für
den Philister, der sich so den trägen Speck vom
Leibe schwitzen mag; aber ein Irrsinn für jeden,
der irgendwie vom Nichts herkommt und in
Form und Tat will: Fall aller echten geistigen
Menschen, die wissen, daß Kraft die Welt zu-
sammenhält, nicht etwa träge Spießerei.

Ähnliches gilt für große Mengen der neuen
Kunst. Der Geist hat sich durchgesetzt gegen-
über dem Objekt. Aber es ging gleich in die
Tyrannei des Geistes hinüber, in die Allein-
herrschaft der Gesinnung und der negativen
Persönlichkeit. Das Objektive der Welt, das
 
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