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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Kehrer, Hugo: Jean Auguste Dominique Ingres
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Millet, Jean-François: Vom Sehen und von der Schönheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0135

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j. a. d. ingres.

gemälde >chasitas«

VOM SEHEN UND VON DER SCHÖNHEIT.

Das Sehen ist beim Zeichnen das, was beim
Schreiben das Lesen ist. Ein Kind mag
alle Buchstaben des Alphabets mit vollkomme-
ner Genauigkeit nachbilden, aber solange es
nicht lesen kann, kann es auch nicht schreiben.

Ein Künstler muß genau wissen, was er will,
bevor er eine Linie zieht oder einen Strich auf
das Papier macht. Vor allen Dingen soll er das
empfinden, was er zu tun beabsichtigt. . . .

Die Schönheit liegt nicht in der Natur der
dargestellten Dinge, sondern in dem Drang des
Künstlers, sie darzustellen. Jedes Ding kann
schön sein an seinem Platz, zu seiner Zeit, und
andererseits ist nichts schön, was losgelöst ist
von Ort und Zeit. Nur keine Schwächung des
Charakters. Laßt Apollo Apollo sein und So-

krates Sokrates bleiben. Vereinigen wir sie,
so verlieren sie beide. Was ist schöner, — ein
gerader Baum oder ein verkrüppelter? Der-
jenige, der an seinen Platz gehört. Für mich
liegt die Schönheit in der Übereinstimmung. Ich
spreche natürlich nicht von absoluter Schön-
heit, denn eine solche kenne ich nicht, und sie
ist mir immer als eitle Täuschung erschienen.
Wer dieser Idee huldigt, der hat kein Auge für
die Schönheiten der natürlichen Erscheinungen.
Der hat sich vergraben in die Anschauungen
vergangener Kunst und sieht nicht, daß die
Natur reich genug ist, um alle Bedürfnisse zu
befriedigen. Gute Seelen! Sie sind poetisch,
ohne Dichter zu sein. Charakter! das ist das
einzig Wahre !....... jean fran^ois miixet.

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