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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 51.1922-1923

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Michel, Wilhelm: Die Kunst und das Geistige
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https://doi.org/10.11588/diglit.9144#0244

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DIE KUNST UND DAS GEISTIGE.

Die Kunst ist kreatürlicher Art und ihrem
Wesen nach wild. Es ist gewiß möglich,
ein großer Künstler und zugleich ein großer
Glaubender und Liebender zu sein. Das geht
aus der Vergangenheit unsrer religiösen Malerei
klar hervor. Aber nie darf man vergessen, daß
dies nur eine seltene Versöhnung ist, daß Kunst
dem Wissen, Glauben und Fordern gegenüber
durchaus auf der Seite des Irdischen steht und
daß man ihr im Grunde ebensowenig Moral
predigen kann wie einem Tiger. Wohl kann
die Kunst höchste geistige Erkenntnis aus-
drücken; aber sie drückt sie aus durch das
Urfeindliche, grade wie wir beim Sprechen
die Erkenntnis ausdrücken durch das Urfeind-
liche, das sinnliche, stoffliche, zerschneidende
und verfälschende Wort.

Kunst ist ein riesiger Komplex naturhaften
Lebens, und Gott wirkt in ihr nicht anders als
er in der Natur wirkt. Wir nehmen die Natur
gewissermaßen als Gottes Leiblichkeit, trotz
der furchtbaren, geistwidrigen Dinge, die sich
in ihr ereignen. So zählt auch die Kunst zu
des Geistes Leiblichkeit, und finden sich in ihr
Dinge, die wider den Geist, wider Glaubens-
gewißheit und sittliche Forderung zu sein schei-
nen, so hindert und mindert dies doch nicht
ihre ausdrückende und verkörpernde Funktion.

Kunst ist durchaus irdischen Wesens. Sie muß
die Freiheit haben, geistig zu irren; sie muß
frei vor allen großen Entscheidungen stehen.
Dem Geist gegenüber ist sie Wildnis, wie die
Natur. Das höhere Wissen ist uns gegeben,
uns in der Wildnis von Natur und Kunst zurecht-
zufinden, nicht aber, um sie zu verwüsten und
in ihrem Lebensgesetz zu stören. Einst war
der Geist und sein Wissen — man denke an
mittelalterliche Zustände — über die Kunst
hingespannt wie ein riesiger Dom. Alpen und
Wolken hatten in diesem Dom Platz, Engel und
Teufel wohnten in ihm, und Schluchten gab es
für Nattern und allerhand Geziefer. Auch für
uns muß es Ziel und Ehrgeiz sein, den geistigen
Dom wieder über die Kunst zu wölben, aber
so hoch und weit, daß sie als naturhaftes Leben
frei darin leben kann. Man muß sich vor Augen
halten, daß auch der Weltschöpfer umwegig,
unausdenkbar geduldig und mittelbar verfährt.
Man ist ihm ein untreuer Knecht, wenn man
seiner Liebe nicht gefolgt ist bis tief in die
Schrecken der Individuation und wenn man
nicht auch das Urböse als Mittel der unbe-
greiflichen Güte erkennt.

Nur umwegig und mittelbar drückt die Kunst
das Göttliche aus, weil sie es durch Leben aus-
drückt, nicht durch Begriff. Wilhelm michel.
 
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