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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Frank, Willy: Die Gewalt der Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0019

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michail a. wrubel.

gemälde »dämon«

DIE GEWALT DER FORM.

Es gibtheute eine Reihe geistiger Bewegungen,
die zur inneren Erstarkung des Menschen
das Mittel der Meditationsübungen verwenden.
Meditation bedeutet die vollkommene Zusam-
menziehung der aktiven und einfühlenden Auf-
merksamkeit auf den betreffenden Gegenstand
unter Abbiendung des Bewußtseins gegen an-
dere Sinneseindrücke oder störende Gedanken.

So wird auch künstlerische Form erst dann
eigentlich lebendig, wenn wir sie „meditieren".
Das bedeutet ein völliges Einlassen auf sie,
eine Einfühlung aller unserer Sinne und Gedan-
ken in den Gang der Linien, in die Akkorde
der Farben, ein beschwörerisches Bebrüten
aller Willensäußerungen des Kunstwerks, wo-
durch sie zum Tönen und schließlich zum Spre-
chen kommen. Nehme ich ein Bild vor, etwa
eine der großen Radierungen von Rembrandt,
so erfasse ich zunächst mit Glut den dargestell-
ten Raum. Ich schicke mein Gefühl in das Ra-
gende und Tragende der Säulen, verehre das
Licht, das seitlich durch die offene Tür in Kata-
rakten hereinschwillt und nach oben und in die
Winkel verschäumt, verperlt. Ich lebe mich in
das Lasten und Hängen eines großen Leuchters
ein, verprobe mich in die satten, schweren
Falten eines hängenden Teppichs und stoße
dann plötzlich auf geballte Gruppen von Men-
schen. Ein Arm in geschwungener Bewegung,
eine mitgerissene Schulter, ein zorniger, wie zum
Stoß gebeugter Kopf, ein hemmungslos nach-
stoßender Körper — das alles muß ich wieder
und wieder mit Augen und Gefühl nachziehen.
Dann merke ich aber auch sofort, daß diese
eine Bewegung im ganzen Bilde vorbereitet ist,

daß viele andre Linien diesem aufspringenden
Motiv zu Hilfe kommen, daß die Bewegung im
Mittelpunkt ein jubelnder Aufschrei ist, zu dem
alles hindrängt und der in allen andern Linien
des Bildes wie in einem Gewölbe widerhallt.

Damit ist das Erlebnis der Form erreicht.
Was von außen als Form erscheint, ist von innen
ungeheure kosmische Lebensgewalt. Form ist
das Aufklingen, das Tönen und Sprechen der
Materie. Erlebnis der Form ist das begeisterte
Ja sagen zum großen Leben, die Einfügung
des Schauenden in den gewaltigen Rhythmus
des Seins. Das ist die „dis superba formae",
die stolze Gewalt der Form, daß sie die geheime
Sphärenmusik, die alles Geschaffene durchtönt,
dem Ohre jedes aufmerksamen Horchers ver-
nehmlich macht, daß sie für Augenblicke sein
begrenztes Dasein anschließt an jenes „Meer,
das flutend strömt gesteigerte Gestalten". Diese
Wort e aus Goethes Gedicht „Bei der Betrachtung
von Schillers Schädel" mögen uns daran erin-
nern, daß auch für ihn diese merkwürdige Be-
gegnung mit einem edlen, kostbaren Rest von
des Freundes leiblicher Existenz ein Former-
lebnis war: „Wie mich geheimnisvoll die Form
entzückte — Die gottgedachte Spur, die sich
erhalten". Schien gleich diese Form der wört-
lichen Bedeutung nach auf Tod zu deuten, auf
ein abgerolltes Stück Dasein: für Goethe war
sie eine Entrückung an den Strand des großen
Lebens. Nicht Vernichtung stierte ihn aus den
leeren Augenhöhlen an: weil er dieses Knochen-
haus eines herrlichen Geistes als Form erlebte,
strömte ihm lauter Daseinswollust und üppige
Herrüchkeit der Lebenskräfte daraus zu. w. f.

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XXVI. April 1923. 2
 
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