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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Ritter, Heinrich: Die Kunst im Zusammenhang der nationalen Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0027

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DIE KUNST IM ZUSAMMENHANG DER NATIONALEN KULTUR.

Es gibt, nach einer geläufigen, laienhaften
Einteilung, im Haushalt eines Volkes lebens-
wichtige und nicht lebenswichtige Dinge. Zu
den ersteren zählt alles, was zur Aufrechterhal-
tung des materiellen Daseins nötig ist. Zu den
letzteren rechnet man diejenigen Dinge, die
unter den Begriff „Luxus", aber auch in den
Bereich der Kunst und des Geistes fallen.

Mit dieser Einteilung — die wie gesagt, eine
laienhafte ist, aber sehr fest in den Gemütern
haftet — muß ihrer Gefährlichkeit wegen auf-
geräumt werden. Wohl wird man zugeben
können, daß der einzelne Mensch begrenzte
Zeit ohne die Dinge der zweiten Art auszu-
kommen vermag. Aber was erfährt er dann?
Er erfährt, daß sie just das enthalten, was das
Leben erst lebenswert macht. Er erfährt,
daß er sich, wenn er sich ihrer begibt, des
eigentlichen Lebenssinnes beraubt. Das gilt
in bescheidenem Maße schon für den „Luxus",
das heißt für die überschießenden, jenseits der
blanken Notdurft liegenden Annehmlichkeiten
des Lebens. Es gilt aber in vollem, buchstäb-
lichem Ernst für die Dinge der Kunst und des
Geistes. Wir wagen die Behauptung: Es ist
nicht wahr, daß Kunst und Geist lebensun-
wichtige Dinge sind, denn nur ihretwegen hat
unser Dasein Sinn und Inhalt.

Freilich tritt das Bedürfnis nach Kunst und
Geist nicht mit der eindeutigen Bestimmtheit
auf wie das Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung
und Behausung. Aber man denke sich einmal

— dazu gehört für einen Kulturmenschen eine
gewaltige Aufraffung — aus seinem Leben alles
fort, was den Geist mit Schrift und Rede an-
spricht. Man denke sich alles fort, worauf unser
Auge mit reiner Schauenslust verweilt, jedes
erlösende Formerlebnis, jedes Ornament, jede
erfreuende Farbe, jeden musikalischen Akkord

— was wäre uns das Leben dann noch wert?
Betrachten wir die Sache von anderer Seite

her. Das Leben eines Volkes ist einem Garten
vergleichbar, in dem mancherlei Gewächse
sprießen. Und ebenso, wie jede Pflanze mit
Naturgewalt zu ihrer Blüte und ihrer Frucht
drängt, so drängt das Leben eines Volkes zur
Kunst und zum Geist. Sinnlos, sich dieses Hin-
drängen gekappt, abgeschnitten zu denken: es
gibt nichts Lebendiges, das nicht zu seiner Blüte
drängt, und was die Blüte für das Leben einer

*

Pflanze beweist, das beweist die Kunst für das
Leben eines Volkes. Man kann nicht sagen,
die Blüte sei entbehrlich. Sie ist mit dem Zu-
sammenhang des ganzen Wachstums notwendig
gegeben, und ein Wachstum, das nicht die Blüte
erzeugt, ist eben damit dem Untergang geweiht.

Wir erleben die Unentbehrlichkeit, die Le-
benswichtigkeit der Kunst in einem Lande, das
ein furchtbares Schicksal durchleidet: in Ruß-
land. Man sollte glauben, Hungersnot, tausend
andre wirtschaftliche und politische Schwierig-
keiten müßten dieses Land abhalten, sich um
Kunst- und Geistpflege zu kümmern. Aber
nein: mitten in den schwersten, von allen Seiten
drohenden Gefahren sucht man den von Ruinen
verschütteten Quell der Schönheit wieder zu
ergraben. Warum? Weil man erkannt hat, daß
ein Leben ohne sie ein sinnloses Leben ist .
Weil man erkannt hat, daß die um sich grei-
fende Barbarei eine ebenso scharfe Bedrohung
des nationalen Lebens darstellt wie die andern,
die materiellen Gefahren.

Wir durchschreiten gegenwärtig einen der
gefährlichsten Punkte unsres Schicksalsweges.
Künstler und Kunsthandwerker und Kunstzeit-
schriften ringen mit der Not der Zeit, rufen die
Öffentlichkeit an um Treue und Opfer. In Wirk-
lichkeit liegt der Fall anders: Wir müßten diese
Menschen, diese Organe anrufen, das bedrohte
Gut unsrer geistigen Lebenswerte tapfer durch
die Not der Zeit zu tragen, und müßten ihnen
unsre Treue und Hilfe auf halbem Weg ent-
gegenbringen. Kindisch und kurzsichtig sparen
in diesen Dingen, heißt im Herbst das Gebälk
im Ofen verbrennen, das uns im Winter vor
Schnee und Kälte schützen sollte. Die Kunst
preisgeben, ihre Zirkulation unterbinden, heißt
dem Leben des Volkes und unserm eignen
Leben das Herz herausreißen. Sehr schwach
gedacht ist es, sich zu sagen: Dann mögen
andre zur Aufrechterhaltung unsrer Kunstpflege
helfen, mir muß anderes wichtiger sein! Nein,
was du nicht selbst opfern willst, das wird dein
Nebenmann erst recht nicht opfern. Durch alle,
durch dich wie deinen Nebenmann, muß die
eine Gesinnung gehen: Zivildienst wird hier
verlangt, unblutige Tapferkeit und Pflichterfül-
lung in der Bewahrung der feinsten, der höch-
sten und dennoch unentbehrlichsten Ausstrah-
lungen des nationalen Lebens.....h. bitter.

*
 
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