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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Kramstal, Erich: Was ist "naturalistische Kunst"?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0115

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WIENER WERKSTÄTTE. »KLÖPPELDECKE« PECHE.

WAS IST,.NATURALISTISCHE KUNST"?

In die Frage des „Stils" überhaupt führt eine
Erwägung des Begriffs „naturalistischeKunst"
sehr gut ein. Wir hören, daß Boccacio die
Pferde des Giotto wegen ihres rücksichtslosen
Naturalismus bewunderte. Sie seien so natür-
lich und lebenswahr gemalt, daß man glauben
könne, sie sprängen aus dem Bild heraus. Die-
ses Urteil muß den laienhaften Kunstbetrachter
einer andern, also etwa unsrer Zeit überraschen.
Denn für unser Auge hat das Weltbild Giottos
nicht sehr viel mit der „Wirklichkeit" gemein-
sam. Uns fallen an seiner Darstellung die über-
natürlichen, die stilisierten Bestandteile in er-
ster Linie auf. Und gerade seine Pferde schei-
nen uns vorwiegend typisch, fast heraldisch
aufgefaßt; sie scheinen uns besonders stark
eingespannt in den idealistischen Formwillen,
der in ihm war, und begegnen sich nirgends
oder fast nirgends mit der Pferdeerscheinung,
die uns etwa von Zügel oder gar von der Sport-
photographie her geläufig ist.

Dieselbe Erfahrung berichtet uns die Ge-
schichte des Kunsturteils auf gar manchen ihrer
Seiten. Darstellungen, die zur Zeit ihrer Ent-
stehung als treueste Abbilder der Natur galten,
wurden von späteren Zeiten als ausgesprochen
stilistische Schilderungen betrachtet. Und um-

gekehrt erfuhren andre Darstellungen, die die
Zeitgenossen als wahre Zerrbilder, als ausge-
lassene Verspottungen der Natur angesehen
hatten, das Schicksal, daß das Urteil der Nach-
kommen sie als rein naturalistische, ja flache und
triviale Wiedergaben der Naturvorlage nahm.

Diese Erfahrung wirft Licht sowohl auf den
Begriff „NaturWirklichkeit" wie auf den Begriff
„Stil". Sie zeigt, daß es kein zeitloses, immer
gültiges Bild der äußeren Natur gibt. Vielmehr
trägt jede besondere Kunstepoche ihren eigenen
Begriff von Naturwirklichkeit vor; wobei es
sich oft ereignet, daß ein vorläuferischer Künst-
ler den Wirklichkeitsbegriff einer kommen-
den Zeit ausspricht und deshalb die Anfein-
dung seiner eigenen Gegenwart erfährt. Der
normale Fall ist jedoch der, daß alle Künstler
einer Epoche durch denselben Wirklichkeits-
begriff mit einander verbunden sind, der eben
nur ihnen oder vielmehr ihrer Zeit gehört. Und
jede Gegenwart nimmt sich die Freiheit, die
vergangenen Kunstepochen unter dem Gesichts-
punkt ihres bestimmten Wirklichkeitsbildes
abzuurteilen. Den Franzosen des 18. Jahrhun-
derts galt Shakespeares Weltschilderung als
rob, verzerrt und barbarisch. Goethe und seine
Generation faßten sie auf als das wirkliche,

XxVI- Mai 1923. 6
 
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