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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Michel, Wilhelm: Das Kunstwerk als Organismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0239

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DAS KUNSTWERK ALS ORGANISMUS.

VON WILHELM MICHEL.

Ohne daß wir es wissen, beruhen unsre heu-
tigen Kunstanschauungen noch wesentlich
auf der romantischen Ästhetik. Was die Brü-
der Schlegel und Wackenroder, was Fichte und
vor allem Schelling über die Kunst gedacht und
gesagt haben, ruht uns heute noch im Blut.
Ja, man kann sagen, daß die romantische Kunst-
anschauung heute lebendiger ist als in den Jahr-
zehnten vorher. Der romantische Gedanke, daß
das echte Kunstwerk ein wahrer Organismus
sei, ist allen heutigen Menschen angeboren. Und
Sendlings Darstellung vom Verhältnis der bil-
denden Künste zur Natur ist mehr als je gegen-
wärtige Wahrheit. Nach Schelling zeigt das
Kunstwerk die volle Harmonie, das Gleichge-
wicht der bewußtlosen und bewußten Tätigkeit,
das sonst in der Erfahrung unmöglich, nur in der
Unendlichkeit denkbar ist. Im Kunstwerk allein
decken sich sinnliche und geistige Welt; denn
das Genie ist die Intelligenz, die als Natur
wirkt. Schon sehr frühe wurde der alte Begriff
der „Naturnachahmung" in der Kunst von der
romantischen Ästhetik dahin verstanden, daß
der Künstler die Natur nicht in ihrem sinnfälligen
Buchstaben, sondern in ihrem schöpferischen
Verfahren nachahmen solle; daß er die „Natur"
nicht erreicht, indem er ihre Erscheinung nach-
bildet, sondern indem er wie sie Organismen,
lebendige Gestalten erschafft. In Friedrich
Schlegels Bemerkungen zur Kunst kehrt immer
der Gedanke wieder, der echte Künstler müsse
ein „organischer Geist" sein und festen, schöp-
ferischen „Mittelpunkt" in sich haben. Eng ver-
schwistert sich damit der Gipfelgedanke, daß
auch die Welt im Ganzen als ein großes, als das
höchste Kunstwerk aufzufassen sei: In seinem
Gespräch über die Poesie stellt er die Welt als
ein Gedicht der Gottheit dar, dessen Teil und
Blüte auch wir sind; und alle heiligen Spiele
der Kunst sind nur „ferne Nachbildungen von
dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich
selbst bildenden Kunstwerk." Diese Beziehung
des irdischen Künstlers zum Gottkünstler —
die sich schon in dem Worte des antiken Philo-
sophen ankündigt, daß ein „pyr technikon" in
der Schöpfung brenne — prägt er ein andermal
in den Sätzen: „Unermeßlich und unerschöpflich
ist die Welt der Poesie, wie der Reichtum der
belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und
Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe.
Selbst die künstlichen Werke oder natürlichen
Erzeugnisse, welche die Form und den Namen

von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der
Umfassendste alle begreifen. Und was sind sie
gegen die innere, bewußtlose Poesie, die sich
in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde
lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in
der liebenden Brust der Frauen glüht ? .. . Ja,
wir alle, die wir Menschen sind, haben immer
und ewig keinen anderen Gegenstand aller Tätig-
keit und aller Freude als das eine Gedicht der
Gottheit, die irdische Schöpfung dieser schönen
Sternenwelt. Die Musik dieses Spielwerkes zu
vernehmen, die Schönheit dieses göttlichen Ge-
dichtes zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein
Funken des ewigen Dichters und seines schaf-
fenden Geistes in uns lebt und tief unter der
Asche der selbstgemachten Unvernunft mit
heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört!"

Am klarsten aber hat wohl August Wilhelm
Schlegel den größten Ehrgeiz der Kunst, die
„Natur nachzuahmen", erläutert und ihn gegen
das barbarische Mißverständnis, das die Kunst-
fremden stets diesem Begriff angetan haben, ab-
gegrenzt. Er sagtin seinen Berliner Vorlesungen:
„Die gesamte Natur ist organisiert, aber das
sehen wir nicht; sie ist eine Intelligenz wie wir,
das ahnen wir nur und gelangen erst durch Spe-
kulation zur klaren Einsicht. Wird nun Natur
indieserwürdigstenBedeutung genommen, nicht
als eine Masse von Produkten, sondern als das
Produzierende selbst, und der Ausdruck Nach-
ahmung ebenfalls in dem edleren Sinne, wo es
nicht heißt, die Äußerlichkeiten eines Menschen
nachäffen, sondern sich die Maximen seines Han-
delns zu eigen machen, so ist nichts mehr gegen
den Grundsatz einzuwenden noch ihm hinzuzu-
fügen: Die Kunst soll die Natur nachahmen.
Das heißt nämlich, sie soll, wie die Natur selb-
ständig schaffend, organisiert und organisierend,
lebendige Werke bilden, die nicht erst durch
fremden Mechanismus, sondern durch inne-
wohnende Kraft, wie das Sonnensystem, be-
weglich sind und vollendet in sich selbst zu-
rückkehren. Auf diese Weise hat Prometheus
die Natur nachgeahmt, als er den Menschen aus
irdischem Ton formte und ihn mit einem von
der Sonne entwandten Funken belebte."

So hat die Romantik mit dem äußersten Nach-
druck auf das organische, naturhafte Wesen des
Kunstwerks verwiesen und damit den Grund
zur Ästhetik eines ganzen Jahrhunderts gelegt.
Wahr ist allerdings, daß mehrere Geschlechter
dieses Jahrhunderts mit der Romantik selbst

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