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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 52.1923

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Scholderer, Harald: Vom Bildungswert der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9145#0252

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VOM BILDUNGSWERT DER KUNST.

Bekannt ist der anscheinend widersinnige
Ausspruch von Oskar Wilde, daß die Kunst
die Natur forme, nicht die Natur die Kunst.
Was ist Wirklichkeit? Das Bild, das wir von
ihr haben. Gibt es ein Bild der Wirklichkeit,
das alle Zeiten und Völker gleichermaßen ver-
pflichtet? Die Kunstgeschichte antwortet mit
Nein. Es ist also etwas Wahres in jenem para-
doxen Wort des englischen Ästheten. Es ist
das Wahre daran, daß jedes Naturbild der
wechselnden Menschengeschlechter von einer
andern Wesenhaftigkeit bestimmt ist. Wenn
ein Künstler sein Naturbild herausstellt und
mir aufzwingt, so schafft er eine bestimmte
neue Wirklichkeit, die es außer ihm und ohne
ihn „nicht gab". Es ist allen Ernstes wahr, daß
die Ruisdael'sche Landschaft vor Ruisdael nicht
existierte, daß die Welt vor dem Aufkommen
des Impressionismus nicht impressionistisch aus-
sah. Das Weltbild einer Zeit, einer Generation,
einer Gruppe, eines Künstlers ist zwanghaft
so, wie es ist; es ist Schöpfung oder besser

Entdeckung. Kunst ist unablässig daran, Wirk-
lichkeit zu entdecken, Natur zu formen.

Wie sehr jedes Weltbild eines starken Künst-
lers Weltentdeckung, Weltschöpfung ist, kön-
nen wir durch ein einfaches Experiment fest-
stellen. Sieht man sich nämlich in die Welt-
auffassung eines solchen Künstlers nachdrück-
lich ein, sättigt man seine ganze innere Sinn-
lichkeit mit seiner Form, seiner Farbe, seiner
Linie, seinen Valeurs, seiner Gemütsart und
Lebensstimmung, so macht man unfehlbar die
Erfahrung, daß man darnach eine Zeit lang die
Welt „mit seinen Augen" sieht. Es gibt kein
wunderbareres und genaueres Instrument als
die menschliche Seele. Sie nimmt die Stim-
mungen, die Akkorde der sie umgebenden Welt
so unerhört genau auf, daß sie mit wunderbarer
Präzision aus ihr zurücktönen. Ohne daß wir
es wissen, ist unsre ganze Weise, zur Umwelt
in Beziehung zu treten, von der Gemeinschaft,
der wir angehören, wesentlich beeinflußt, mit-
bestimmt; insbesondere von ihrer Sprache und
 
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