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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Ritter, H.: Die geistigen Kräfte
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0095

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DIE GEISTI

Die große, bestimmende Tatsache des mo-
dernen Lebens ist die ungeheure Anhäu-
fung des technischen, wissenschaftlichen, wirt-
schaftlichen Stoffes bei einem gleichzeitigen
Zurücktreten der bewältigenden und for-
menden Geisteskräfte. Vielleicht ist die
„Kulturkrise", in der wir stehen, letzten Endes
nur aus diesem Mißverhältnis zu erklären: Welt
und Leben bevölkern sich täglich dichter mit
neuen Gegebenheiten; Einsichten, Fragen,
Zwecke, Tatsachen drängen von allen Seiten
konzentrisch auf den Menschen ein — aber
gleichzeitig sinkt unsre Fähigkeit, uns in diesem
turbulenten Wirrwarr geistig zu behaupten. Die
Fülle des Materials macht uns fast blind, sie
droht das Wertwissen, die Begriffsbildung zu
ersticken, und daher fühlen wir uns immer mehr
versucht, die Haltung des herrschenden Geistes
aufzugeben und uns lieber freiwillig in den
Trubel des Materials hineinzustürzen, ehe uns
die riesige Überflutung unfreiwillig mitnimmt.
Als geistige Wesen sind wir verpflichtet, nach
Behauptung des Geistes, nach Überschau, be-
grifflicher Ordnung und gestaltender Bezwingung

EN KRÄFTE

der Stoffwelt zu streben. Aber als Mitlebende
sind wir verpflichtet, auf das herzuströmende
Neue einzugehen und uns nicht feige an ihm
vorbeizudrücken. Und im Augenblick scheint
dieser letztere Anspruch zu überwiegen: immer
mehr zeichnet sich in Geistesbezirken die Ten-
denz ab, vor allem die lebendige Fühlung mit
dem neuen Lebenstempo, der technischen Kul-
tur, den neuen Stoffen und Einsichten zu halten
und die Frage der geistigen Beherrschung ge-
wissermaßen zu vertagen. Ein Beweis dafür
liegt z. B. in dem Zunehmen realistischer
Tendenzen in der .Bildung; der Begriff einer
vorwiegend formalen Bildung steht heute mehr
denn je in Verruf, weil wir glauben, uns vor
allem mit den Massen neuen Stoffes gut stel-
len zu müssen. Und so darf man wohl auch
sagen, daß die Kunst unter einer deutlichen
Ungunst der Zeit steht, daß sie von gewissen
Kreisen, die auf der Höhe des gegenwärtigen
Augenblicks stehen wollen, als eine Art Über-
flüssigkeit angesehen wird. Was man haben,
greifen, benutzen kann, besonders Dinge des
zivilisatorischen Apparates, das gilt da wertvoller
 
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