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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Urzidil, Johannes: Schöpferische Kunstbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0320

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prof. karl hofer—berlin.

MIT GENEHMIGUNG

gf.mai.de »CHE/, le ÜIC

SCHÖPFERISCHE KUNSTBETRACHTUNG

Kunst betrachten heißt, ein bereits vor-
handenes Kunsterlebnis in den Lichtkegel
des Bewußtseins rücken, um so mit diesem
Kunsterlebnis eine Gestaltwandlung vorzuneh-
men. Das Kunsterlebnis bedeutet die passive,
die Kunstbetrachtung die aktive Beziehung des
Menschen zum Kunstwerk. Die Umwandlung
des Kunsterlebnisses in die Kunstbetrachtung,
der Prozeß, der unser Hörigkeitsverhältnis zum
Kunstwerk in ein Souveränitätsverhältnis um-
bildet, setzt einen Willensakt voraus, dessen
geheime Apparatur hier zu untersuchen ist.

Das Verhältnis des Beschauers zum Kunst-
werk ist in der Regel nicht durch einen ein-
maligen derartigen Vorgang erschöpft, der durch
das sauber geschiedene Nacheinander von Er-
lebnis und Betrachtung gekennzeichnet wäre,
sondern besteht in einer andauernden organi-
schen Entwicklung, welche die Umwandlung
von Erlebnis in Betrachtung und von Betrach-
tung in Erlebnis mehreremale wiederholt. Das
Kunsterlebnis bildet das primäre Substrat der

Kunstbetrachtung, diese erfährt wiederum nach
völligem Aufbrauchen des Substrates eine Wei-
terverwandlung zu einem neuen bereicherten
Kunsterlebnis, welches wiederum das befruch-
tende Substrat einer gesteigerten Kunstbe-
trachtung darstellt. Dieser Vorgang wiederholt
sich in anwachsender Intensität und Fülle so-
lange, bis unser Verhältnis zum Kunstwerk ge-
sättigt erscheint. Es hängt einerseits von dem
Maße unserer eigenen Erlebnisfähigkeit und
unseres Assoziationsreichtums, andererseits von
der Bedeutung des Kunstwerkes und seiner
Strahlungskraft ab, wie andauernd, wie reich
und intensiv sich dieses Verhältnis gestaltet.

Jedes Kunstwerk vergleicht die Realität der
Welt mit einer bestimmten Idee. In besonders
genialen Fällen stimmt dieser Vergleich aufs
Haar, ebenso wie bei einer wahren Metapher
der Literatur, und wirkt wie der Ausdruck einer
unmittelbar evidenten Wahrheit. Es kann aber
auch bald die eine, bald die andere Seite des
Vergleiches ins Übergewicht geraten und so die

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