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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 60.1927

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Michel, Wilhelm: Gehen wir einem Zeitalter der Entseelung entgegen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9255#0190

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GEHEN WIR EINEM ZEITALTER DER ENTSEELUNG
ENTGEGEN?

Niemand kann leugnen, daß Kräfte der Ent-
seelung heute am Werke sind. Jeder Blick
auf die Gestaltung des Erwerbslebens dürfte es
bestätigen, und selbst die Werte des höheren,
des geistigen Lebens zeigen sich von jenen ver-
hängnisvollen Tendenzen ergriffen. Es ist z. B.
ein bedenkliches Anzeichen, daß selbst in der
Musik eine Strömung besteht, die eine „Ent-
seelung" des Klanges fordert, die ihre eigent-
lichen Absichten nur mit scharfen und schnei-
denden, schrillen und gellen, stumpfen und
harten Tönen erreichen zu können glaubt. Eben-
so verbinden sich mit dem Vordringen des Tech-
nischen vielfach entseelende Tendenzen. Das
Ideal der körperlichen Kraft hat, wie bekannt,
im Bewußtsein der Massen einen sehr breiten
Raum eingenommen. Ja, es gibt heute gewisse
snobistische Kreise, in denen, weil man doch
der Kultur des Geistigen niemals sehr innig
verbunden war, die beginnende Entseelung,
dieser „Untergang des Abendlandes", als
etwas Unvermeidliches betrachtet und sogar
begrüßt wird. In diesen Kreisen, die für die
Kultur niemals viel bedeutet haben, beginnt
man es für „chic" zu halten, Geistiges gering zu
schätzen, und die Berufung auf die wirtschaft-
liche Not der Zeit wird dabei häufig von Leuten
gehandhabt, die im übrigen für alle möglichen
Dinge Geld haben — nur nicht mehr für die
Güter der Kunst und des Geistes. Diesen geisti-
gen Hungerkünstlern sieht man an, daß sie die
Parole der Sparsamkeit nur deshalb ergreifen,
weil sie ihrer Geistesöde entgegenkommt. Man
sagt den Morphinisten nach, daß sie ein gewisses
Vergnügen dabei finden, Andre zu ihrem Laster
zu verleiten. So sieht man auch diese geistigen
Hungerkünstler allenthalben beflissen, ihrer Ab-
stinenz von höheren Dingen ein bedeutendes
Mäntelchen umzuhängen und aus ihr womöglich
eine Mode zu machen.

Aber so gewiß die entseelenden Tendenzen
vorhanden sind, so gewiß fehlt noch sehr Vieles
an ihrem Sieg. Ganz im Gegenteil: es steht
ihnen ein genau so starkes Anwachsen der geg-
nerischen Kräfte gegenüber. Und es ist wichtig,
sich von diesen Kräften Rechenschaft zu geben.
Denn mit ihrem Vordringen oder Unterliegen
hängt das Schicksal der Kunst aufs engste zu-
sammen. Der Zweckmensch, der entseelte
Mensch kann nie ein echtes Verhältnis zur Kunst
haben; ganz einfach deshalb nicht, weil Kunst
nie aus der abstrakten Zweckfrage hervorgeht,

sondern in ihrem Lebenskern und ihrer Ent-
faltung einem eigenen, höheren Gesetze folgt.

Unzweifelhaft also zeigen sich neben den
Symptomen der Entseelung auch bedeutsame
Anzeichen geistiger und seelischer Vertiefung.
Die „Entseelung" enthüllt sich bei näherem
Zusehen als eine Polarisierungs-Erschei-
nung; d.h. es entspricht ihr eine gegenteilige
Erscheinung von gleicher Kraft und Tiefe. Sie
tritt besonders auf jenem Gebiet zutage, das
man das religiöse nennt. Aber sie bedeutet
etwas ganz anderes als eine Frömmelei oder
einen Pietismus oder eine Lebensflucht. Sie
bedeutet, daß gerade die lebenstüchtigen Men-
schen, die ernsthaften und mit ihrer Zeit leben-
den Denker sich genötigt sehen, die Kernfragen
des menschlichen Daseins als Fragen des Geistes
aufzufassen. Gewiß führt diese Tendenz eine
Menge von unerwünschten, abwegigen Erschei-
nungen mit sich. Aberglaube und läppischer
Handel mit Geheimnissen blühen auf, Wunder-
sucht und Orakelschwindel gedeihen gemeinsam
mit einer falschen Esoterik. Aber nach der
menschlichen Organisation sind derartige Ent-
stellungen und Ausartungen unvermeidlich; sie
widerlegen nicht den gesunden Kern, der in
einer Bewegung steckt. Dieser gesunde Kern
liegt hier darin, daß die religiöse Frage wieder
als Lebensfrage verstanden wird, d.h. daß
die Menschen wieder wahrnehmen, wie sehr
ihr Leben in der Tiefe von geistigen Kräften
bestimmt ist, wie sehr ihm eine geistige Be-
deutung und Würdigkeit zugrunde liegt. Nicht
im platten Moralisieren und Katechisieren be-
tätigt sich diese neue Geistigkeit, sondern vorab
in einer tieferen Lebenserkenntnis.

Sie ist eine Fühlungnahme mit den Lebens-
gesetzen und also ein neues Bekenntnis zu
den geistigen Wirklichkeiten unsres Men-
schenwesens. Sie ist eine neue Einfügung des
Menschen in die seit Urzeiten ihm gesetzte
Ordnung; aus dieser Einfügung geht der Mensch
geschöpflicher, wirklicher, geordneter und nüch-
terner hervor als er es vorher war. Diese neue
Religiosität hat nichts zu tun mit Schwärme-
rei, Ruhebedürfnis und träumender Illusion. Im
Gegenteil: sie zielt darauf ab, daß wir uns
klären, daß wir unsere Illusionen los werden
und uns erst recht zu Menschen dieser Erde,
zu Bürgern dieser Welt integrieren.

Diese „religiöse" Bewegung wirkt sich nicht
nur in theologischen Kreisen aus; sie greift weit
 
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