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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 61.1927-1928

DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Zur Frage der Stilisierung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9249#0253

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ZUR FRAGE DER „STILISIERUNG"

VON WILHELM MICHEL

Es gab früher in der Kunst einen Begriff, der
nannte sich „Stilisierung". Das war zur
Zeit des Jugendstils. Stilisieren hieß den ge-
läufigen Tatbestand eines sichtbaren Objekts
ins Steife, Absonderliche und Bizarre ziehen
Stilisiert war eine Menschenfigur, wenn sie
starr dastand, in einer unnatürlichen Haltung,
eingepreßt in ein Feld, das ihr Gewalt antat wie
eine Fesselung. Aber das war nicht das Wesent-
liche an diesem Begriff. Wesentlich war für ihn,
daß man das „Stilisieren" als ein willentliches,
absichtliches Verfahren auffaßte; als ein Ver-
fahren, das man nach Belieben ausführen oder
lassen konnte. „Stilisieren" ward als eine Sache
der Willkür angesehen, als eine Sache, die man
bewußt machen und lernen konnte. Und man
berief sich für diese ungemein veräußerlichte
Auffassung auf Vorbilder älterer Zeiten. Man
schob also den Malern undBildhauern der Ver-
gangenheit, die die Menschengestalt in einer
anderen Weise als der uns geläufigen dargestellt
hatten, unter, daß sie bewußt „stilisiert" hätten.

Diese Annahme ist inzwischen längst als ein
Irrtum erkannt worden. Wir wissen heute, daß
es in keinem Falle wesentlicher Kunstübung so
etwas wie unser bewußtes „Stilisieren" gegeben
hat. Nie hat ein echter Künstler diese Art dop-
pelter Buchführung geübt. Nie hat er zwei völlig
verschiedene Sehweisen nebeneinander kulti-
viert, eine für den Werktag, eine andre für
den Sonntag, je nach Bedarf und Willkür ein-
zuschalten durch einen einfachen Druck auf den
entsprechenden Knopf. Nur eine Zeit, der das
echte Kunstgefühl verloren gegangen war und
die ihren blutlosen Intellektualismus auch in die
Vergangenheit projizierte, konnte auf eine so
unlebendige Anschauung kommen. Wir wissen
heute, daß jeder Künstler, sofern er nach der
Natur arbeitet, ihr genau diejenige Gestalt gibt,
die für ihn die wahre und vollständige Gestalt
ist. Die angeblichen Abweichungen von der
„Wirklichkeit" sind nie Produkte eines kalt-
blütig angewandten Rezeptes. Sie sind stets
die subjektive Wahrheit des betreffenden Künst-

KRISCHKER—BERLIN. »HANDGETRIEBENE KUPFERGEFÄSSE, SILBER TAUSCHIERT«
 
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