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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 62.1928

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Hausenstein, Wilhelm: Die venezianische Internationale
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https://doi.org/10.11588/diglit.9251#0317

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DIE VENEZIANISCHE INTERNATIONALE

VON DR. WILHELM HAUSENSTEIN

Die Gewichte der Ausstellung in den Giar-
dini Pubblici liegen beim historischen Teil
des italienischen Beitrags, bei den Franzosen,
bei den Deutschen, den Belgiern.

In den letzten Jahren hat die italienische For-
schung, angeregt durch die Initiative des Mai-
länders Enrico Somare, sich mehr als bis dahin
mit der italienischen Malerei des Ottocento be-
faßt. Somare hat eine große Studie über diese
Epoche und Zone geschrieben und eine große,
bemerkenswerte Monographie über den italie-
nischen Frühimpressionisten Telemaco Signorini
folgen lassen. Die venezianische Ausstellung
versucht in der italienischen Halle nun einen
Querschnitt durch die italienische Malerei des
19. Jahrhunderts. Man stößt nicht auf Namen,
die mit der Bedeutung der großen Franzosen
und Deutschen des Zeitalters gesegnet sind; es
gibt, wenn diese Ausstellung die Wahrheit weiß,
keinen italienischen Delacroix oder Ingres,
Corot oder Courbet, Manet oder Renoir, auch
keinen italienischen Menzel, Leibi, Feuerbach,
Marees; aber es gibt eine stattliche Reihe von
Namen, die den durch jene größeren cisalpinen
Namen bezeichneten Konstellationen angehören
— objektiv angehören, denn viele subjektive
Verbindungen hat es kaum gegeben, ausgenom-
men etwa die Verbindungen der italienischen
Malerei mit dem französischen Römer Ingres.
Die Linie zu dem Klassizisten Ingres ist in der
italienischen Malerei wohl die festeste und be-
wußteste. Auf ihr steht zum Beispiel die Kunst
des Francesco Hayez, der unter den Italienern
des vorigen Jahrhunderts einer der wichtigsten
ist; sein Bildnisstil, der Stil, den er für die ent-
blößte Schönheit des Weiblichen gefunden hat,
kommt der stilistischen Haltung und der Wahr-
heit des Ingres ziemlich nahe. Die Namen der
italienischen Porträtmalerei, die in einer künf-
tigen Darstellung der europäischen Kunst des
19. Jahrhunderts nicht werden vergessen wer-
den dürfen, sind diese (gerechnet vom Klassizis-
mus bis zum realistisch-malerischen Bildnisstil
der Achtziger Jahre): Appiani, Ciseri, Coghetti,
Fattori, Grigoletti, Hayez, Lipparini, Politi,
Schiavoni. Unter den Genremalern sind Borani,
Induno, Lega ausgezeichnet, auch Fattori, Van-
nutelli. Die intime Landschaftsmalerei wird von
den Namen Carcano, Ciardi, Delleani, Gignous
getragen; sie entsprechen dem nordischen Stil
der Epoche seit 1850 oder 1860. Dies ist das
Wesentlichste des italienischen Beitrags. Die
moderne italienische Abteilung bringt zwischen

vielen Mittelmäßigkeiten und Naivitäten, auch
allerlei Leer-Anmaßendem weniges Bemerkens-
werte; das Beste der modernen italienischen
Abteilung ist wohl die Kollektion des Turiner
Malers Feiice Casorati; zwar ist er kühl-metho-
disch, aber er hat Bildung, Geschmack, Form.

Die Franzosen haben wie meist in solchen
Dingen eine gute Regie. Sie bringen drei Kollek-
tionen: Gauguin, Matisse, Bourdelle. Der dritte,
Bourdelle, wird wohl als der Erbe des Rodin
ausgegeben; aber mit aller Begabtheit ist er
dem Rodin an Natur, an Ursprünglichkeit, an
Notwendigkeit nicht zu vergleichen; das Meiste
mutet als hochtalentierter Manierismus an. Die
Kollektionen Gauguin und Matisse sind nicht
sehr groß, aber im Sinn des Typischen repräsen-
tativ; man kann sich in Venedig recht wohl eine
Vorstellung von Art und Bedeutung der beiden
machen; beide erscheinen in gut gewählten
Bildern, Plastiken und Graphikstücken. Merk-
würdig, wie von Mal zu Mal der Eindruck, die
Einschätzung sich wandelt. Nicht daß man auf-
hören wollte, die zwei (die mehr zusammen-
gehören, als man zunächst denken möchte) für
entscheidende Figuren der neueren Kunst zu
halten. Aber das „Barbarische", das „Wilde",
das „Erschreckende" der beiden ist vorüber,
ist — in unserem aufnehmenden Gefühl — nun
beruhigt; in unserem aufnehmenden Gefühl, ja;
aber auch an sich selbst scheint das „Wilde"
nun stiller, als wir früher meinten. Es offen-
bart sich nun immer mehr das Gesetzte, das
Ruhig-Planmäßige auch dieser für uns vordem
so grellen Dinge; man spürt immer besser,
daß der französische Traditionalismus, die fran-
zösische Besonnenheit von Anfang an auch hier
beschwichtigend, mäßigend mitgewirkt hat; die
zwei fallen keineswegs aus der französischen
Ordnung und Einheit hinaus! Matisse: ein „Bar-
bar" mit sehr viel Regime) Ein „Elementarer"
mit sehr viel Regel! Im übrigen fällt selbst bei
Gauguin, dem „Tahitianer", das Experimentelle
auf, das ihn trägt, ihn, sein Leben, seine Kunst;
dies alles ist eben auch nur ein Versuch.

Die deutsche Abteilung bringt Corinth, Nolde;
die Kollektion Corinth ist zwar längst nicht so
gut gewählt, wie sie es sein müßte, aber sie ist
immer Corinth. Das Krasse Noldes mag abstoßen,
aber es ist sicherlich glaubwürdig. Marc ist von
der Geschichte abgeschwächt. Viele Deutsche
sind nicht so glücklich vertreten, wie sie es sein
könnten. Liebermann, Slevogt, Kokoschka,
Kubin fehlen (weshalb?) — aber das Ganze ist,

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