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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 63.1928-1929

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Koch, Alexander: Schlussjurierung von Ausstellungen: Ein Vorschlag
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https://doi.org/10.11588/diglit.9253#0052

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Schlußjurierung von Ausstellungen

Ausstellung, nachdem Jury und Hängekommis-
sion ihres Amtes gewaltet und das Ganze be-
sichtigungsreif gemacht haben, von einer be-
sonderen Kommission von Vertrauensmännern
noch einmal überprüft, gleichsam „abgenommen"
wird. Diese Überprüfung müßte durch Männer
geschehen, die mit Jurierung, Hängen usw.
nicht befaßt waren; die also mit vollkom-
men frischen Augen und unbeeinflußtem Urteil
an ihre Aufgabe herangehen und das fertige
Ganze gerade mit Hinblick auf die Zusammen-
hänge, auf die Physiognomie, auf die Gesamt-
wirkung der Wände, der Säle und der Saal-
reihe zu prüfen haben. Diese Abnahmejury
würde alle noch stehen gebliebenen Fehler
und Schwächen mit frischen Sinnen wahr-
nehmen und verbessern können; letzteres in
kollegialem Zusammenwirken mit Jury und
Hängekommission. Sie müßte aus den urteils-
fähigsten Männern der ausstellenden Künstler-
gruppe bestehen, aber nicht nur aus diesen,
sondern auch aus kunstverständigen Nicht-
künstlern von besonderer Eignung zur Beurtei-
lung einer Gesamtwirkung; also etwa Museums-
leitern , Kunstwissenschaftlern, bedeutenden
Sammlern sowie sonstigen Kunstkennern, die
zu einer geschmacklichen, kulturellen, erziehe-
rischen Gesamtwürdigung der Ausstellung be-
fähigtsind. Kurz, es müßten in dieser Abnahme-
jury die wichtigsten jener Standpunkte, von
denen aus jede öffentliche Darbietung beurteilt
zu werden pflegt, maßgebend vertreten sein:
in erster Linie der künstlerisch-qualitative, dann
der der eindrucksvollen Gesamtwirkung und
Wirkungssteigerung, dann der der politischen,
religiösen, moralischen Schicklichkeit u. s. f. Das
wichtigste Argument zugunsten dieser Ab-
nahmejury liegt darin, daß sie der Ausstel-
lung genau so begegnet, wie ihr derKri-
tiker, der Kunstfreund, das Publikum
begegnet, mit dem wesentlichen Unterschied,
daß die Ergebnisse ihrer Überprüfung der Aus-
stellung vor der Eröffnung noch zugute kommen
können. Damit wäre erst das Moment der Ver-
antwortung und der Verantwortlichkeit der
Jury dem Publikum gegenüber vollständig aus-
gewirkt. Wenn man von sich selber weiß, wie
entscheidend der erste Eindruck einer Ausstel-
lung ist, wie leicht er durch eine vermeidbare
Einzelheit gestört werden kann, dann wird man
jede Möglichkeit, den ersten Eindruck und die
Gesamtwirkung zu sichern, willkommen heißen.
Der hier vertretene Vorschlag begegnet sich
übrigens mit einem Vorschlag, den ich schon

anläßlich der Münchener Gewerbeschau 1922
gemacht habe; oder vielmehr, er ist mit diesem
in der Sache identisch und verlangt nur seine
Übertragung auch auf die reinen Kunstausstel-
lungen. Selbstverständlich soll — um dies hier
noch ausdrücklich festzustellen — mit dem Vor-
stehenden nicht gesagt sein, daß eine Kunst-
ausstellung unter rein geschmackliche oder viel-
mehr geschmäcklerische Gesichtspunkte zu
bringen sei. Das wäre ein Verstoß gegen das
Wesen der Kunst. Es kann sich nur darum
handeln, Sinn für Gesamtarrangement und Ge-
samtwirkung da zu betätigen, wo er berechtigt
ist und zur Erhöhung des Ganzen beiträgt; es
sind ja in der Regel stets nur Kleinigkeiten,
fast Imponderabilien, die stören, die aber für
ein empfindliches Auge von großer Bedeutung
für ein Behagen oder Unbehagen sein können.*)
So sehr ich davon überzeugt bin, daß auf die
vorgeschlagene Art die Wirkung einer Ausstel-
lung gehoben werden kann, so gewiß ist es auch,
daß jede Ausstellung eine begrenzte Sache,
eine Sache vongebundenenMöglichkeitenbleibt.
Zur Unterstützung der Ansicht, daß dem ersten
Eindruck eine außerordentliche Bedeutung zu-
komme, verweise ich auf die landläufige Hoch-
schätzung der Physiognomik, auf die allgemein
verbreitete Anschauung, daß der erste Eindruck
von einer Sache oder einem Menschen der
„richtige" ist. Darüber gibt es glänzende Be-
merkungen des Darmstädter Kriegsrates und
Goethefreundes Joh. Heinrich Merck; sie stehen
in seinem Briefwechsel mit Lavater, dem Vater
der deutschen Physiognomik. Merck sagt da
geradezu: „Also wir sehen nur Einmal
(d.h. das erste Mal); und wer dies nicht glauben
will, kan es nur bey allen Gegenständen ver-
suchen ob er zum zweitenmal sehen kan;
ob ihm das Bild in seiner ganzen Fülle, Neuheit
und dunklem inpliciten Genuß noch einmal vor
die Seele komme, oder ob nur die zweyte und
dritte Eindrücke nicht wahre Gespenstererschei-
nungen sind, mit denen die Einbildungskraft
macht und machen kan was sie will." —

*) Zu diesen Ausführungen noch eine grundsätz-
liche Bemerkung: Jede Kunstausstellung sollte
einen erzieherischen Wert anstreben und be-
sitzen; einen erzieherischen Wert in dem Sinne,
daß einer oder mehrere Säle nur solche Kunstwerke
enthalten, für welche die Jury die volle, absolute
künstlerische Verantwortung übernimmt. Das
Publikum muß in diesen Sälen vor eine Auswahl
gestellt werden, die absolut zuverlässig ist und
nicht die geringste Niete enthält. Nur dadurch
werden die Wertbegriffe lebendig erhalten und
wird das Urteil beim Beschauer wahrhaft gefördert.
 
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