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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 63.1928-1929

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Michel, Wilhelm: Der Künstler und der "Bürger"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9253#0309
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ARCHITEKT FRITZ FUSS—KÖLN

»SOFAECKE IN VORSIEH. WOHNRAUM«

DER KÜNSTLER UND DER „BÜRGER"

VON WILHELM MICHEL

Jahrzehntelang haben Künstler und Künstler-
genossen das Wort „Bürger" gern in einem
Sinn gebraucht, der einen Spott, eine gutmütige
oder aggressive Ablehnung in sich schloß. Der
„Bürger", das war das Urbild alles Lebens aus
zweiter Hand, alles Abgeleiteten und Verdünn-
ten, alles Vorurteils und Nachurteils, alles Be-
quemen und Uneigentlichen. Es sollte nur das
frische, das unmittelbare und grenzenlos bewegte
Leben gelten. Wer sich nicht in jedem Augenblick
bis ins Letzte ergriffen und ergreifbar zeigte,
der galt nicht als ein voll lebendiger Mensch,
der war ein „Bürger". Die Gegentypen zu ihm
benannten sich zu verschiedenen Zeiten ver-
schieden. Einmal war es der „Dandy", der
gegen die bürgerliche Lebensform auftrat, dann
war es wieder der Ästhet, für den in zuge-
spitztester Weise alles zum Formproblem wurde,
dann der Bohemien, der den Anspruch erhob,
jederzeit aus unmittelbarem Impuls denkerischer
oder gefühlsmäßiger Art leben zu können.
— Es ist bekannt, daß diese drei genannten

Typen seit geraumer Zeit von der Bildfläche
verschwunden sind. Aber man hat sichselten klar
zu machen gesucht, was dieses Verschwinden
bedeutet. Es lohnt sich aber gewiß, darüber nach-
zudenken. Ganz offenbar nämlich stellte der
Protest des Bohemiens (samt der zugehörigen
Typen) gegen die bürgerliche Lebensform einen
bestimmten geistigen Zustand dar; einen Zu-
stand, in dem der „Geist" die Verbindung mit
dem wirklichen Leben scheute und es unge-
bunden umschwärmte, immer seinen Gegensatz
zu ihm betonend. Der Kunstzigeuner trug
diesen Protest bekanntlich schon in seiner
Kleidung zur Schau. War es auch ungewollte
Armut, die sein zigeunerhaftes Auftreten be-
stimmte, so wurde doch daraus ein umgrenzter
Lebensstil, und dieser Lebensstil fand eine ge-
wisse öffentliche Anerkennung. Dies ging soweit,
daß sogar gelegentlich Begüterte den Stil der
Boheme annahmen oder ihn wenigstens imitier-
ten: er entsprach eben, wie oben schon ange-
deutet, einer realen und allgemeinen Geisteslage.
 
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