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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 67.1930-1931

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Wenzel, Alfred: Zeitspiegel und Gegenwelt: aus einem Dialog
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https://doi.org/10.11588/diglit.7202#0121

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ZEITSPIEGEL UND GEGENWELT

AUS EINEM DIALOO

„........Ich glaube, Sie werden mir zu-
stimmen, wenn ich von einem Aktualitäts-
wert des Kunstwerkes spreche; ich meine bei-
leibe nicht jene Aktualität, die auf dem Kunst-
Markt die große Rolle spielt: jene ganz im Sinne
börsenhaften Betriebes zu verstehende Aus-
zeichnung von Werken oder Werkgruppen, die
gerade — um mich ganz geschäftsmäßig aus-
zudrücken — stark „gefragt" sind. Nein, ich
meine „Aktualität" im allgemeineren und tie-
feren Sinne: jenen Grad von Wichtigkeit näm-
lich, den Kunstwerke einer bestimmten Zeit,
eines bestimmten Lebenskreises, dadurch daß
sie wirklich aus dieser Zeit, aus diesem Leben
heraus erwuchsen, für die Mitlebenden haben.
Denn ist es nicht so: daß Kunst in dem Maße
Sinn und Bedeutung für uns hat, in dem sie uns
Welt und Leben vorstellt, — und ist für uns,
die wir Menschen einer bestimmten „Zeit" sind,
nicht solche Kunst am bedeutsamsten, die —
ganz aus unserer „Zeit", aus unserer beson-
deren Form menschlichen Seins, Verhaltens,
Strebens entspringend — uns gleichsam den
Spiegel bildet, in welchem wir uns — klarer,
als wir es sonst könnten — zu sehen vermögen?
— Sie werden mir gewiß ohne weiteres zu-
geben, daß das Verhältnis des modernen Kul-
turmenschen zum Kunstwerk sich auf eine be-
sondere Art vergeistigt hat: wir wollen nicht
nur schöne Oberfläche, wir wollen irgendwie
immer unserer Welt und uns selbst begegnen,
wir wollen unsere „Realität" im magischen
Spiegel schauen; „Realität" — das ist alles,
was als Wirklichkeit uns und unsere Umgebung
umfaßt; wir wollen darum auch, daß alles, was
uns selbst angesichts des Vorhandenen als
Lebensvolles durchpulst, durchglüht, durch-
wühlt und durchschauert, im Bilde sichtbar vor
uns stehe; wir wollen unser Lebens-„Tempo"
in ihm wiederfinden, — jenen merkwürdigen
Elan, den wir als zu uns gehörig empfinden,
trotzdem er uns mitunter als etwas Zwangvolles
erfüllt; vielleicht befreien wir uns bis zu einem
gewissen Grade von diesem allen, sobald es
als „Objekt" beschaubar vor uns im Bilde er-
scheint. — Und sehen Sie: in diesem Sinne
verstanden, bedeutet wohl „Aktualität"
einen Wertmesser für die Geltung von Kunst-
werken: in dem Maße, wie wir in ihnen jene
Kennzeichen wiederfinden, die wir an uns selbst
als die besonderen, „zeitgemäßen" wahrgenom-
men haben: die Intensität, die Konzentration,

jene vibrierende, nach allen Seiten offene und
und die Fühler ausstreckende nervöse Leben-
digkeit, — in dem Maße werden wir Kunstwerke
als zu uns gehörig schätzen. Und ist es darum
nicht natürlich, eine wertende Scheidung in
zeitgemäße und unzeitgemäße Werke vorzu-
nehmen, auch wenn — wie Sie mir leicht ein-
werfen können — eine solche früher niemals
existiert hat und auch nie versucht worden ist?"

„Nein, denn das, was überhaupt an der Kunst,
am wahren Kunstwerk das „Zeitgemäße" aus-
macht, ist gar nicht so einfach zu umreißen, wie
Sie es eben taten. Sie sehen jene Werke, in
denen die dynamische Geladenheit unserer heu-
tigen Realität schwingt, als die aktuell bedeut-
samsten, als den eigentlichen Zeit-Ausdruck
an; Sie glauben, daß diese Kunst gewissermaßen
die zeit-echteste ist. In Wirklichkeit aber ist
„Zeitgemäßheit", aktuelle Bedeutsamkeit gerade
auch in Kunstwerken, die von diesen Kenn-
zeichen nichts an sich tragen. Denn es liegt im
Wesen der Kunstschöpfung, daß sie wohl ihre
Wurzeln stets in der „Zeit", in der besonderen
seelischen Situation einer Allgemeinheit hat,
aber, von diesem Gegebenen aus, sich nach
zwei Seiten hin entfalten kann; sie spiegelt
die Zeit, gewiß, sie gestaltet aber auch daneben

— in der anderen Richtung strebend — die
Gegenwelt, indem sie gerade das Nicht-
Vorhandene formend zum Bilde verdichtet. Es
ist die Funktion, die Sendung der Kunst, nicht
nur Wirklichkeit zu spiegeln, sondern auch er-
gänzende, komplementäre Gestalt zu bilden:
dem Chaotischen — die Ordnung, dem Wirren

— das Ausgeglichene, der Hast, dem „Tempo"

— die Ruhe, dem Turbulenten — die Festigung,
dem allzu Dynamischen — das Statische ent-
gegenzusetzen. Und — da wir immer nach
dem „Sinn" zu fragen gewohnt sind: jedenfalls
tut sie es, weil nicht nur jene Wünsche, die Sie
vorhin als die Ihren nannten, dem Kunstwerk
entgegengetragen werden, sondern auch der
Wunsch nach dem Andern als verborgener
Strom in uns ist. — Diese Gegenwelt ist kein
Reich traumhafter Gespinste, sie ist nichts Zeit-
fremdes, — ja allem Anschein nach ist sie so-
gar mehr als jene Steigerung und Intensivierung
des Tatsächlichen, die Sie vom Kunstwerk ver-
langen , der eigentliche Zeit-Ausdruck: als
der komplementäre Wert, der ergänzend
alles tatsächlich Vorhandene erst zu einem har-
monischen Ganzen rundet." dr. aifrkii wruzri.

XXX1Y. November 1930. 6
 
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