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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 67.1930-1931

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Michel, Wilhelm: Phasen der Schönheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7202#0205

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architekt fritz gross—wien

»likör- und zigarrenschrank«

PHASEN DER SCHÖNHEIT

Die Schönheit strahlt zu Zeiten aus der Welt
hervor und wird Kunst. Sie steht dann
faßbar in herrlichen Formen und überschüttet
das Leben mit Glanz, mit Sinn und Bedeutung.
Zu anderen Zeiten ist die Schönheit unserem
Blick entzogen, sie ist „der Welt immanent",
sie steckt verborgen in ihr, hat keine Worte
und keine Zeichen, und dann ist die Situation
des Dürer'schen Wortes gegeben: „Wer sie
heraus kann reißen, der hat sie". Es geht dem
Schönen nicht anders als dem Guten und dem
Wahren. Auch das Gute und Wahre tun sich
das eine Mal sichtbar hervor, sie manifestieren
sich, das andere Mal liegen sie, unserem Blick
unerkennbar, tief in den Reden und Handlungen
der Menschen und sind „apokryph". Geht es
dann an das „Herausreißen", dann sieht oft

das Schöne unkenntlich aus, das Gute erscheint
wie Bosheit und das Wahre wie Irrtum. Im
Grunde wissen wir alle um diese Verkappungen
Bescheid. Wir wissen, daß die größte Liebe
zuzeiten — gegenüber dem Kind oder dem Un-
einsichtigen — als Härte auftreten muß. Wir
wissen, daß eine neue Wahrheit am Beginn fast
immer paradox aussehen muß. Ja, wir haben
alle schon vielfach erlebt, daß eine Kraft, die
das Leben selbst war, am Beginn wie lauter
Tod und Vernichtung auftrat. Die große Lehre,
die daraus zu ziehen ist, lautet: Welt und Leben,
Schönheit und Wahrheit schenken sich dem
Menschen immer von neuem, und er ist nur so-
lange der wirklichen Teilnahme am Lebendigen
sicher, als er für dieses Geschenk, für Über-
raschungen und Wagnisse offen bleibt, w. michel.

XlilV. Deiember 1930. «
 
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