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Vollendung erreichen. Wir brauchen defshalb nicht die fertige hellenifche Kunft-
weife als eine directe Weiterbildung des früher Beftandenen oder Vorgefundenen
anzufehen; fie ift vielmehr das Ergebnifs einer neuen geiftigen Auffaffung, die fich
aus dem Vorhandenen ihre befondern Formen geftaltete.

Die Ordnungen (die heutige Bezeichnung für die gefichteten einzelnen Bau-
weifen) find das Refultat der gleichen Geiftesarbeit, welche die ordnende Trennung
in dem in bunter Mengung Ueberlieferten fchuf. Aus den Trümmern älterer, ein-
heimifcher und fremder Elemente ift hier die bildende Kunft hervorgegangen; all-
überall treten die Merkmale ihres secundären Urfprungs uns entgegen (vgl. Semper%).
Jedes Volk, das ein in der Cultur vorgefchritteneres zum Nachbarn hat, wird von
diefem annehmen, fich Einrichtungen deffelben zu eigen machen; eine abfolute
Originalität für eine weniger oder gar nicht entwickelte Cultur kann alfo nicht auf-
kommen, wenn eine entwickeltere daneben liegt. Die Erfahrung auf allen Gebieten
der Kunft lehrt aber, dafs die Nachahmung der Originalität vorausgeht und letztere
erft zu Tag tritt, wenn man, nach dem in fich Aufgenommenen, noch die Kraft
befitzt, felbft etwas zu fchaffen — die Hellenen hatten diefe Kraft!

Die Cultur Innerafiens und Aegyptens war aber fchon eine entwickelte, ehe
man noch daran dachte, Hellas mit Kunftwerken zu fchmücken. Nicht abgefchloffen
lagen die genannten Länder; fie theilten ihre Errungenfchaften auch anderen Völkern
mit. Das Cultur vermittelnde Element waren wohl die Phöniker, das Volk von
Sidon und Tyrus; Kleinafien bildete die Brücke zwifchen mefopotamifcher und
hellenifcher Cultur. —

Alfo nicht fertig, wie Pallas Athene aus dem Haupte Jupiters, find die Formen
und Ordnungen der hellenifchen Baukunft entftanden; die herrlichen Früchte der-
felben find nur Iangfam gezeitigt; die verfchiedenen Uebergangsftadien bis zur Reife
find leider vielfach lückenhaft oder gänzlich verwifcht.

Weil nicht abfolut originell und weil der Vergleich beinahe nie zutrifft, haben
die ftrengen Formen der dorifchen und die. zierlichen der jonifchen Bauweife mit
dem Volkscharakter nichts zu fchaffen. Beifpielsweife gelten für gewöhnlich die
Spartiaten als Repräfentanten des dorifchen Stammes; bei diefen aber war jede
Kunftthätigkeit und Handarbeit, als eines freien Mannes unwürdig, verpönt; ihre
Baukünftler waren daher Fremde oder die unterdrückten Achäer; die Dorer von
Korinth und Syrakus zählten zu den üppigften und ausgelaffenften Bewohnern von
ganz Hellas. Die Männer von Tirynth, die Erbauer der Riefenmauern dafelbft und
deren Nachkommen, galten für albern und lachfüchtig. (Vgl. J. Braun. 4)

Auch nicht dem Verlangen des Volkes find die herrlichften Bauwerke Griechen-
lands zu verdanken, fondern der Erkenntnifs und dem fetten Willen Einzelner —
hochgebildeter Machthaber — fo in Athen jenem Alleinherrfcher im Republikaner-
mantel — Perikles.

Wie bei fo vielem Erhabenem und Grofsem, fo dürfte auch hier das Meifte
nicht mit. fondern eher gegen das Wollen und WTünfchen der grofsen Menge ins
Leben gerufen fein, ein Vorkommnifs, das fich auch heute noch, und namentlich
bei uns Germanen, zu jeder Stunde abfpielt. Man vergleiche ähnliche Erfcheinungen
in der goldenen Zeit der Renaiffance.

!) Semper, G. Der Stil in den technifchen und tektonifchen Künften. München 1860—63. 2. Aufl. Lieferung 1—8.
1879 (unvollendet).

4) Braun, J. Gefchichte der Kunft. Wiesbaden 1856—58. Zweite Ausgabe von Reber. 1873.
 
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