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Dvořák, Max
Kunstgeschichte als Geistesgeschichte: Studien zur abendländischen Kunstentwicklung ; mit fünfundvierzig Tafeln — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.42344#0076
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IDEALISMUS UND NATURALISMUS IN DER GOTIK

christliche Weltanschauung einen Einfluß ausgeübt hat. So finden wir
aber Entwicklungsmomente, die sich im Kleide der bildlichen Darstel-
lung jeder Anknüpfung daran entziehen, was wir gewohnt sind von der
Kunst zu fordern, z. B. in der mittelalterlichen Literatur, in den großen
theologischen Kämpfen und Systemen, in wissenschaftlichen Bestre-
bungen und allgemeinen Bildungselementen des Mittelalters, zum gro-
ßen Teile entweder in den Denkmälern selbst unzweideutig ausge-
drückt oder durch Forschung auf diesen Gebieten soweit klargelegt, daß
die Bedeutung der entsprechenden Analogien in der Kunst kaum noch
einem Zweifel unterliegen kann. Nicht der kümmerliche Behelf des
Werkstattbetriebes, die Rezeptenbücher, auf die man sich zu berufen
pflegt1, sind der theoretische Kommentar zu der Wiedergeburt einer
idealistisch-monumentalen Kunst im Mittelalter und zu dem in ihr be-
schlossenen neuen Schöpfen aus der Natur, sondern die Werke der gro-
ßen mittelalterlichen Denker, für die das Problem der Stellung der
Menschen zu gewaltigen geistigen Abstraktionen und die durch sie be-
dingte Auffassung der Welt der Sinne durch Jahrhunderte der Mittel-
punkt der geistigen Interessen gewesen ist.
Die ausschlaggebenden künstlerischen Ziele und Zusammenhänge in
der Geschichte der Kunst der Neuzeit erscheinen vielfach in dem Maße
geklärt, als sie in der Zeit ihrer Geltung von kunsttheoretischen Erörte-
rungen begleitet wurden, die, so viel Formelhaftes oder willkürlich
Konstruiertes sie auch enthielten, doch zur Folge hatten, daß die spä-
ter einsetzenden kunstgeschichtlichen Untersuchungen vom Anfang
an an eine fortlaufende Kenntnis der wichtigsten Wandlungen in der
Auffassung der künstlerischen Probleme anknüpfen konnten. Dies fehlt
fast ganz im Mittelalter, wo sich formale Aufgaben dem allgemeinen
geistigen Inhalte vielfach vollständig unterordnen müssen, kann jedoch
durch die diesem Inhalte gewidmeten Werke der großen Theologen zu-
mindest zum Teil ersetzt werden.

1 Auch das jüngst erschienene umfangreiche Buch von A. Pellizzari über mittelalterliche
Kunsttraktate (I trattati attorno le arti figurative in Italia I. Dali’ antichitä classica al sec.
XIII. Napoli 1915) leidet unter dieser Einseitigkeit. Der von P. etwas weitschweifig versuchte
Nachweis, daß sich in alchimistischen, naturwissenschaftlichen und technischen Abhandlun-
gen und Rezeptenbüchern in ununterbrochener Überlieferung Überreste der antiken prakti-
schen Kunstliteratur erhalten haben, ist wertvoll. Doch die Bedeutung dieser Schriften für
die Kunst des Mittelalters und ihre Erforschung wird dabei sehr überschätzt. Sie bieten wenig
für die Beurteilung der lebendigen und ununtei'brochenen Weiterbildung der Kunstanschau-
ungen und werden erst wichtig, als sie seit dem 14. Jahrhundert im Zusammenhänge mit dem
fortschreitenden Sichloslösen von der mittelalterlichen transzendenten Bedingtheit der Kunst
im wachsenden Maße mit kunsttheoretischen Regeln und Betrachtungen verbunden wurden.

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