B. RENOVATIO IN FRANKREICH - DER „FRANZÖSISCHE"
MODUS
1. Gotik und Barock in Frankreich:
Ein gespanntes Verhältnis
„II est immense et vaste, et de structure
antique,
L’ordre gottique l’orne avee le Mosaique,
Et par leur ornement et leur antiquite
Hs le font venerable ä la posterite.“2™
„II n’y a point d’edifiees de plus mauvais go-
üt que les bätiments gothiques, et il n’y en a
point de plus hardis, ni dont la construetion
ait demande plus d’activite et de lumieres pra-
tiques dans les moyens d’execution[...].“215
Es wurde versucht, die Renovatio in Italien
auf der Basis jener generell abwertenden
Einschätzung zu verstehen, die dem Kir-
chenbau des Mittelalters dort entgegenge-
bracht wurde: ein Erbe, das eher als Bürde
denn als identitätsstiftende und künstle-
risch anregende Tradition wahrgenommen
wurde. Die „Gotik“216 erschien dort, mit den
Augen Vasaris gesehen, nicht nur als äs-
thetisch fremdartig und historisch über-
wunden, sondern auch als wesensmäßig
fremd. Der als eigen und eigentlich emp-
fundene wiedererweckte „modo romano“
wurde dem für oktroyiert gehaltenen „mo-
do tedesco“ als eindeutig bessere Alternati-
ve entgegengestellt. Trotz aller lokalen oder
religiösen Verpflichtung zum Traditiona-
lismus erschienen die Zeugnisse der Archi-
tektur vor 1400 bestenfalls als Herausfor-
derung, nicht aber als künstlerisches Vor-
bild oder hochgeschätzter Nachlaß der Alt-
vorderen. Dementsprechend ist die italieni-
sche Renovatio durch eine Auseinanderset-
zung mit dem Erbe geprägt, deren Anliegen
die Korrektur, die Überwindung und Ver-
besserung durch Anpassung an die moder-
ne Ästhetik, nicht aber die Fortführung und
Vervollkommnung dieser Tradition ist.
Hierin liegt der entscheidende Unterschied
zum Norden, zu Deutschland, aber auch zu
Frankreich217, das sich wohl wie kein ande-
res Land des Kontinents218 durchgängig mit
seiner eigenen gebauten kirchlichen Tradi-
tion identifizierte. Wie in Italien kann die
Renovatio in Frankreich nicht verstanden
werden, ohne zuvor das Verhältnis von
mittelalterlichem Erbe und zeitgenössi-
schem Sakralbau betrachtet zu haben. Im
Spannungsfeld dieser beiden Pole ent-
wickeln sich zwangsläufig die Grundprin-
zipien der hier betrachteten Bauaufgabe.
Neben der ästhetischen Bejahung der
mittelalterlichen Wurzeln, auf deren Be-
gründung im Folgenden einzugehen sein
wird, tritt in Frankreich noch ein weiteres,
214 Lobgedicht des Vincent Sablon (1619-93)
auf die Kathedrale von Chartres, hier zit.
nach Frankl 1960, S. 339. „Mosaique" be-
deutet hier gotische Verzierung im Allge-
meinen.
215 Anne Robert Jacques Turgot (1727-81):
Discours sur l'architecture universelle, ed.
1944, II, S. 666, hier zit. nach Frankl 1960,
S. 394f.
216 „Gotik" soll hier, durchaus im Sinne der
zeitgenössischen Terminologie, als Syn-
onym für mittelalterliche Baukunst ins-
gesamt verstanden werden. In unserem
Untersuchungszeitraum war ein Bewußt-
sein für die stilistische Differenzierung
im Mittelalter noch kaum entwickelt und
erfolgte allenfalls durch Hilfsbegriffe wie
„gothique ancienne" für Romanik und
„moderne" für Hochgotik, welcher allge-
mein mehr „de//catesse"bescheinigt wird;
Vergl. hierzu das Vorwort von Jean Fran-
gois Felibien: Recueil historique [...]. Pa-
ris 1687, hier zit. nach Frankl 1960, S.
Abb. 37: Paris, St-
Etienne du Mont:
Langhaus
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MODUS
1. Gotik und Barock in Frankreich:
Ein gespanntes Verhältnis
„II est immense et vaste, et de structure
antique,
L’ordre gottique l’orne avee le Mosaique,
Et par leur ornement et leur antiquite
Hs le font venerable ä la posterite.“2™
„II n’y a point d’edifiees de plus mauvais go-
üt que les bätiments gothiques, et il n’y en a
point de plus hardis, ni dont la construetion
ait demande plus d’activite et de lumieres pra-
tiques dans les moyens d’execution[...].“215
Es wurde versucht, die Renovatio in Italien
auf der Basis jener generell abwertenden
Einschätzung zu verstehen, die dem Kir-
chenbau des Mittelalters dort entgegenge-
bracht wurde: ein Erbe, das eher als Bürde
denn als identitätsstiftende und künstle-
risch anregende Tradition wahrgenommen
wurde. Die „Gotik“216 erschien dort, mit den
Augen Vasaris gesehen, nicht nur als äs-
thetisch fremdartig und historisch über-
wunden, sondern auch als wesensmäßig
fremd. Der als eigen und eigentlich emp-
fundene wiedererweckte „modo romano“
wurde dem für oktroyiert gehaltenen „mo-
do tedesco“ als eindeutig bessere Alternati-
ve entgegengestellt. Trotz aller lokalen oder
religiösen Verpflichtung zum Traditiona-
lismus erschienen die Zeugnisse der Archi-
tektur vor 1400 bestenfalls als Herausfor-
derung, nicht aber als künstlerisches Vor-
bild oder hochgeschätzter Nachlaß der Alt-
vorderen. Dementsprechend ist die italieni-
sche Renovatio durch eine Auseinanderset-
zung mit dem Erbe geprägt, deren Anliegen
die Korrektur, die Überwindung und Ver-
besserung durch Anpassung an die moder-
ne Ästhetik, nicht aber die Fortführung und
Vervollkommnung dieser Tradition ist.
Hierin liegt der entscheidende Unterschied
zum Norden, zu Deutschland, aber auch zu
Frankreich217, das sich wohl wie kein ande-
res Land des Kontinents218 durchgängig mit
seiner eigenen gebauten kirchlichen Tradi-
tion identifizierte. Wie in Italien kann die
Renovatio in Frankreich nicht verstanden
werden, ohne zuvor das Verhältnis von
mittelalterlichem Erbe und zeitgenössi-
schem Sakralbau betrachtet zu haben. Im
Spannungsfeld dieser beiden Pole ent-
wickeln sich zwangsläufig die Grundprin-
zipien der hier betrachteten Bauaufgabe.
Neben der ästhetischen Bejahung der
mittelalterlichen Wurzeln, auf deren Be-
gründung im Folgenden einzugehen sein
wird, tritt in Frankreich noch ein weiteres,
214 Lobgedicht des Vincent Sablon (1619-93)
auf die Kathedrale von Chartres, hier zit.
nach Frankl 1960, S. 339. „Mosaique" be-
deutet hier gotische Verzierung im Allge-
meinen.
215 Anne Robert Jacques Turgot (1727-81):
Discours sur l'architecture universelle, ed.
1944, II, S. 666, hier zit. nach Frankl 1960,
S. 394f.
216 „Gotik" soll hier, durchaus im Sinne der
zeitgenössischen Terminologie, als Syn-
onym für mittelalterliche Baukunst ins-
gesamt verstanden werden. In unserem
Untersuchungszeitraum war ein Bewußt-
sein für die stilistische Differenzierung
im Mittelalter noch kaum entwickelt und
erfolgte allenfalls durch Hilfsbegriffe wie
„gothique ancienne" für Romanik und
„moderne" für Hochgotik, welcher allge-
mein mehr „de//catesse"bescheinigt wird;
Vergl. hierzu das Vorwort von Jean Fran-
gois Felibien: Recueil historique [...]. Pa-
ris 1687, hier zit. nach Frankl 1960, S.
Abb. 37: Paris, St-
Etienne du Mont:
Langhaus
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