D. RENOVATIO UND REFORMATIO IN DEUTSCHLAND
Deutschland liegt nicht nur geographisch in
der Mitte zwischen Frankreich, Italien und
den österreichischen Ländern, es nimmt
auch in unserer Frage, der Renovatio, eine
Mittelstellung zwischen den diesen drei
Ländern zugeordneten Positionen ein.
„Italienische“ Überformung, „Französische“
Kontrastästhetik und „Österreichisches“ Hi-
storisieren - für alle drei Formen finden
sich Beispiele in Süddeutschland, ohne daß
diese Tendenzen zu Einflußsphären auf Ter-
ritorialkarten vereinfacht werden könnten.
Hinzu tritt ein weiteres, entscheidendes Ele-
ment, das in den bisher untersuchten Natio-
nen keine prägende Rolle im Baugeschehen
spielte: die konfessionelle Teilung und die
daraus entstehende direkte Konkurrenz der
Glaubensrichtungen im Kirchenbau, die für
das Reich seit 1555 als bestimmende Grund-
konstante gelten kann546. Zugleich fällt auf,
daß sogenannte „Barockisierungen“, also
den ganzen Raum umgestaltende Renova-
tiones, in Deutschland bei weitem verbreite-
ter und gebräuchlicher waren und mit hö-
herem künstlerischem Aufwand und An-
spruch betrieben wurden als in den rein ka-
tholischen Ländern des Südens und We-
stens. Hieraus ergibt sich die Frage, ob ein
direkter Zusammenhang zwischen Renova-
tio und Konfessionalisierung besteht.
Der Kirchenbau in Deutschland ist während
des gesamten 16. und frühen 17. Jahrhun-
derts geprägt von der ‘Nachgotik’, einem
offensichtlich bewußten Festhalten an den
gewohnten Formen und Konzepten des Sa-
kralbaus547. Diese Tendenz erscheint auf
den ersten Blick als das glatte Gegenteil der
,Barockisierung’, also der modernisierenden
Überformung des Alten. Hieraus ergibt sich
die Frage, ob die scheinbar so kontradikto-
rischen Ideale als Ausdruck entgegenge-
setzter Programme verstanden werden kön-
nen. Handelt es sich um - eventuell kon-
fessionell eindeutig konnotierte - Prinzi-
pien oder um Optionen? Sollte letzteres zu-
treffen, also eine gewisse Wahlfreiheit oh-
ne genaue Zuordnung von Form und Inhalt
vorliegen, so wäre dies ein weiterer Beleg
für die hier vertretene Theorie vom Modus
der Renovatio.
Zuletzt ist zu fragen, welche Stellung der
Protestantismus beim Umgang mit mittel-
alterlichen Bauten einnahm. Ist die Reno-
vatio als Kind der Konfessionalisierung ein
typisch katholisches oder ein überkonfes-
sionelles Phänomen? Gibt es auch inner-
halb einer Glaubensrichtung verschiedene
Tendenzen und ist eine historische Ent-
wicklung des Umgangs mit dem Alten ab-
lesbar? Wie sieht es schließlich mit der
wechselseitigen Beeinflussung aus?
1. Gotik und Barock als
konfessionelle Stile?
„Die Architektur unserer Gegenden läßt
sich, wie die in anderen Teilen Deutsch-
lands, bis tief ins XVII. Jahrhundert hinein
unschwer als die natürliche Fortentwik-
klung der Gotik erkennen [...], so sehr eine
Annäherung an die gleichzeitige und pa-
rallele Entwicklung der italienischen Ba-
rocke stattgefunden haben mag, nirgends
wird der Fluß des allmählichen Werdens
völlig unterbrochen, nirgends bringt ein
scharfer Sprung den Mitlebenden den
Gegensatz zur altheimischen Bauweise zu
klarem Bewußtsein. So ist das Verhältnis
zur Gotik ein gänzlich naives; wo es zu Be-
rührungen zwischen moderner und alter
Kunst kommt - etwa bei Restaurierungen,
Ergänzungen alter Bauten usw. - wird völ-
lig unbefangen im alten Sinne weiterge-
schaffen, ohne daß ausdrücklich an eine
Anlehnung oder an einen Gegensatz der Sti-
le gedacht würde. “548
Wie in den anderen Ländern muß auch für
Deutschland einleitend die Frage gestellt
546 Im Gegensatz zu Frankreich gelang es der
katholischen Seite hier nicht, die Evan-
gelischen pauschal als Reichsfeinde zu
brandmarken: Die Protestanten hatten
nicht nur mächtige Reichsfürsten als
Schutzherren, sondern unterstellten sich
auch demonstrativ der kaiserlichen Ober-
herrschaft. Vergl. das sog. Schweinfurter
Konfessionsbild (ca. 1600) aus der ev.
luth. Johanniskirche: Es zeigt in fiktiver
Form die Bestätigung der Confessio Au-
gustana durch Karl V. 1530 (sie erfolgte
faktisch erst im Religionsfrieden von
1555) gegenüber den vor dem Kaiser-
thron knieenden Vertretern der evangeli-
schen Reichsstädte und Fürsten. Siehe
Kat. Reformation Augsburg 1997, S. 156.
547 Zur Einführung siehe Bachmann 1953, S.
135f.
548 Tietze 1909, S. 162.
157
Deutschland liegt nicht nur geographisch in
der Mitte zwischen Frankreich, Italien und
den österreichischen Ländern, es nimmt
auch in unserer Frage, der Renovatio, eine
Mittelstellung zwischen den diesen drei
Ländern zugeordneten Positionen ein.
„Italienische“ Überformung, „Französische“
Kontrastästhetik und „Österreichisches“ Hi-
storisieren - für alle drei Formen finden
sich Beispiele in Süddeutschland, ohne daß
diese Tendenzen zu Einflußsphären auf Ter-
ritorialkarten vereinfacht werden könnten.
Hinzu tritt ein weiteres, entscheidendes Ele-
ment, das in den bisher untersuchten Natio-
nen keine prägende Rolle im Baugeschehen
spielte: die konfessionelle Teilung und die
daraus entstehende direkte Konkurrenz der
Glaubensrichtungen im Kirchenbau, die für
das Reich seit 1555 als bestimmende Grund-
konstante gelten kann546. Zugleich fällt auf,
daß sogenannte „Barockisierungen“, also
den ganzen Raum umgestaltende Renova-
tiones, in Deutschland bei weitem verbreite-
ter und gebräuchlicher waren und mit hö-
herem künstlerischem Aufwand und An-
spruch betrieben wurden als in den rein ka-
tholischen Ländern des Südens und We-
stens. Hieraus ergibt sich die Frage, ob ein
direkter Zusammenhang zwischen Renova-
tio und Konfessionalisierung besteht.
Der Kirchenbau in Deutschland ist während
des gesamten 16. und frühen 17. Jahrhun-
derts geprägt von der ‘Nachgotik’, einem
offensichtlich bewußten Festhalten an den
gewohnten Formen und Konzepten des Sa-
kralbaus547. Diese Tendenz erscheint auf
den ersten Blick als das glatte Gegenteil der
,Barockisierung’, also der modernisierenden
Überformung des Alten. Hieraus ergibt sich
die Frage, ob die scheinbar so kontradikto-
rischen Ideale als Ausdruck entgegenge-
setzter Programme verstanden werden kön-
nen. Handelt es sich um - eventuell kon-
fessionell eindeutig konnotierte - Prinzi-
pien oder um Optionen? Sollte letzteres zu-
treffen, also eine gewisse Wahlfreiheit oh-
ne genaue Zuordnung von Form und Inhalt
vorliegen, so wäre dies ein weiterer Beleg
für die hier vertretene Theorie vom Modus
der Renovatio.
Zuletzt ist zu fragen, welche Stellung der
Protestantismus beim Umgang mit mittel-
alterlichen Bauten einnahm. Ist die Reno-
vatio als Kind der Konfessionalisierung ein
typisch katholisches oder ein überkonfes-
sionelles Phänomen? Gibt es auch inner-
halb einer Glaubensrichtung verschiedene
Tendenzen und ist eine historische Ent-
wicklung des Umgangs mit dem Alten ab-
lesbar? Wie sieht es schließlich mit der
wechselseitigen Beeinflussung aus?
1. Gotik und Barock als
konfessionelle Stile?
„Die Architektur unserer Gegenden läßt
sich, wie die in anderen Teilen Deutsch-
lands, bis tief ins XVII. Jahrhundert hinein
unschwer als die natürliche Fortentwik-
klung der Gotik erkennen [...], so sehr eine
Annäherung an die gleichzeitige und pa-
rallele Entwicklung der italienischen Ba-
rocke stattgefunden haben mag, nirgends
wird der Fluß des allmählichen Werdens
völlig unterbrochen, nirgends bringt ein
scharfer Sprung den Mitlebenden den
Gegensatz zur altheimischen Bauweise zu
klarem Bewußtsein. So ist das Verhältnis
zur Gotik ein gänzlich naives; wo es zu Be-
rührungen zwischen moderner und alter
Kunst kommt - etwa bei Restaurierungen,
Ergänzungen alter Bauten usw. - wird völ-
lig unbefangen im alten Sinne weiterge-
schaffen, ohne daß ausdrücklich an eine
Anlehnung oder an einen Gegensatz der Sti-
le gedacht würde. “548
Wie in den anderen Ländern muß auch für
Deutschland einleitend die Frage gestellt
546 Im Gegensatz zu Frankreich gelang es der
katholischen Seite hier nicht, die Evan-
gelischen pauschal als Reichsfeinde zu
brandmarken: Die Protestanten hatten
nicht nur mächtige Reichsfürsten als
Schutzherren, sondern unterstellten sich
auch demonstrativ der kaiserlichen Ober-
herrschaft. Vergl. das sog. Schweinfurter
Konfessionsbild (ca. 1600) aus der ev.
luth. Johanniskirche: Es zeigt in fiktiver
Form die Bestätigung der Confessio Au-
gustana durch Karl V. 1530 (sie erfolgte
faktisch erst im Religionsfrieden von
1555) gegenüber den vor dem Kaiser-
thron knieenden Vertretern der evangeli-
schen Reichsstädte und Fürsten. Siehe
Kat. Reformation Augsburg 1997, S. 156.
547 Zur Einführung siehe Bachmann 1953, S.
135f.
548 Tietze 1909, S. 162.
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