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Wünsche nach naturwissenschaftlicher Richtigkeit offen
lassen, obwohl er den Betrachter auch immer wieder mit
frei erfundenen oder vorgefundenen, weiter phantasier-
ten Fabelwesen erfreuen kann, im Vergleich dazu sind
seine Vorbilder, vor allem die Hoefnagels, akademisch
trocken, belehrend, aber nicht emotional ergreifend. Mit
welcher Liebe zum Objekt jede winzige Spiegelung der
roten und weißen Johannisbeeren (Abb. 62) gemalt ist,
wie die hauchdünnen, durchsichtigen Flügel der Libelle
und einer Schnake zerbrechlich und funktionstüchtig zu-
gleich erscheinen, wie im Gegenstück (Abb. 63) drei win-
zige Käfer bemüht sind, Blätter, Stängel und Knospen
eines Vergissmeinnichtzweiges auf der Suche nach Nah-
rung zu bewältigen, wie die fehlende Hoefnagel'sche
Symmetrie das Geschehen im Miniaturraum zufälliger,
lebensechter erscheinen lässt, das ist schon weit entfernt
von den Vorbildern, weist entschieden auf andersartige,
der Zeit um 1650 entsprechendere künstlerische Indivi-
dualität hin.
Schon in den 50er-Jahren des 17. Jh. dürften kleine
Tierbilder von JVKI in der Kunstwelt Antwerpens zum ge-
kannten und auch ohne Signatur als von der Hand des
JVKI erkannten Handelsobjekt fest etabliert gewesen sein:
im Verkaufsbuch des Pater Daems um 1657 findet sich
der Eintrag „Sesse schilderkens van beestkens met lysten
9.8 st. 5. Jan van Kessel"47.
In Cambridge finden wir einige dieser unsignierten, in
ihrer Inanspruchnahme für JVK I aber unzweifelhaften
/Miniaturräume', belebt von Insekten und Blumen (Abb.
70, Kat. 384; Abb. 71, Kat. 388). Das wegen der Raupe
unten rechts wahrscheinlich inhaltlich im Sinne der Meta-
morphosen-Eigenschaft des Schmetterlings in seinem
Werden symbolhaft leicht,aufgeladene' Gemälde „Insek-
ten und zwei Tulpen" (Abb. 72, Kat. 396) wurde 1992
gestohlen und ist seitdem verschollen. Von dem 4er-Set in
Oxford ist eine Komposition eindeutig der Vanitas-Sym-
bolik gewidmet (Abb. 24, Kat. 710), eines bringt Erdbee-
ren mit Insekten (Abb. 73, Kat. 441), zwei stellen Blumen
in ihrer Funktion als Futter für einige Insekten dar (Abb.
74, Kat. 397; Abb. 75, Kat. 404). Auf ein weiteres Bild mit
Insekten und Blüten, das die Versalien-Signatur J. V. KES-
SEL aus früher Zeit trägt (Abb. 76, Kat. 400), sei verwie-
sen, weil es als Beispiel für viele andere steht, die ohne
ablesbaren Sinnzusammenhang lediglich der natürlichen
Schönheit des Dargestellten verpflichtet sind.
Im Jahr 1650 ergänzt der Maler seine Insekten- und
Kriechtierstudien erstmals mit in der Form phantastischen
Meeresmuscheln, wie wir sie seit rudolfinischer Zeit als
Kunstkammerobjekte kennen. Alle diese fremdartigen
Muscheln (Kat. 406-408), wie die fünf auf einer hellen
Unterlage liegenden (Abb. 77, Kat. 347), dürfte der Maler


Abb.70 Jan van Kessel d.Ä., Insekten und Vergissmeinnichtzweig.
Cambridge, Fitzwilliam Museum (Kat. 384)


Abb. 71 Jan van Kessel d.Ä., Insekten und Blütenzweige. Cambridge,
Fitzwilliam Museum (Kat. 388)

im Antwerpener Hafen von einem der aus fernen Welten
zurückkehrenden Schiffe erworben oder als Modelle aus-
geliehen haben. Die Kompositionsidee reiner ,Streumu-
sterbilder' beginnt sich mit der Libelle, die auf der skur-
rilen Muschel unten rechts gelandet ist, sowie dem in
seiner Flügelzeichnung mit der ringförmig braun gestreif-
ten Muschel links vom Bildzentrum kommunizierenden
Schmetterling in Richtung ,Miniaturraum' zu verändern.

JVK I: Stillleben mit Insekten, Blumen und Früchten

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