Stillleben mit Insekten
Die gegenwärtige Einschätzung der Forschung zum Still-
lebenmaler JVK I geben die Bemerkung von Karl Schütz
anlässlich der Ausstellung „Das Flämische Stillleben"
2002 wieder: „In der zweiten Hälfte des 17. jh. fasste Jan
van Kessel als nachgeborener Eklektiker die verschie-
denen Spielarten des aus Naturstudien hervorgegangenen
Stilllebens wie des enzyklopädischen Kunstkammerbildes
zusammen. Als Enkel Jan Brueghels d. Ä. - Jan Kessels Va-
ter Hieronymus war Mitarbeiter in der Werkstatt Jan Bru-
eghels und hatte dessen Tochter Paschasia zur Frau ge-
nommen - war er, wie es der Brueghel'schen Familientra-
dition entsprach, dazu prädestiniert, an die Malerei seines
Großvaters anzuschließen, sie zu kopieren und zu variie-
ren. ... Ebenso griff er auf die Kabinettminiaturen Joris
Hoefnagels zurück, entkleidete sie ihrer geistreichen und
gelehrten emblematischen Bedeutung und beschränkte
sich auf die gefällige Anordnung von Blüten, Früchten
und Insekten zu kleinen Stillleben ..., wobei er sich vor
allem auf den Formenschatz der Archetypa ... stützen
konnte. Originell ist Jan van Kessel vor allem in seinen
Streumusterbildern ..., die einzelne, ebenfalls vorwie-
gend auf Joris Hoefnagel zurückgehende Naturstudien
ohne räumlichen Zusammenhang wie die späteren natur-
wissenschaftlichen Illustrationen einer Schautafel neben-
einander anordnen ..."4°.
Van Kessel sprengt alle Gattungsbegriffe, seine Land-
schaften sind nicht der Natur nachempfundene reale Räu-
me, seine Stillleben entsprechen nicht dem, was wir ge-
meinhin darunter verstehen: „Unter dem Sammelbegriff
Stillleben verstehen wir gemeinhin die Darstellung unbe-
wegter, zumeist kleinerer Gegenstände, Pflanzen und
regloser Lebewesen in bewusst arrangierter Anordnung,
die in erster Linie von formalen und malerischen Ge-
sichtspunkten geleitet ist, aber auch inhaltlich bedeutsam
sein kann. ... Bei dem Wort Stillleben bzw. seiner ur-
sprünglichen niederländischen Form ,stilleven' handelt es
sich um eine künstliche Sprachschöpfung, die aus der
Atelierpraxis der Maler entstand. Das Adjektiv still be-
zieht sich auf den Gegenstand der Darstellung und meint,
dass dieser unbewegt, still-liegend sei, während das Sub-
stantiv Leben nicht in der Bedeutung von lebendig ver-
wendet wird, sondern sich auf die Art der Darstellung,
das Malverfahren bezieht und bedeutet, dass die gemal-
ten Dinge dem Maler leibhaftig vor Augen standen, dass
sie, wie der niederländische Fachausdruck der Maler lau-
tet, ,naer het leven' gemalt sind... Ein Ausdruck, der auch
im Deutschen als ,nach dem Leben gemalt' vollkommen
verständlich ist - egal, ob es sich dabei um Lebendiges
oder Unbelebtes handelt, entscheidend ist vielmehr, dass
es sich nicht um eine Erfindung des Künstlers, sondern
um eine getreue Wiedergabe des Gesehenen han-
delt...."41.
Diese Gattungsverschränkung drückt sich perfekt in
dem Gemälde „Insekten an einer Steinplatte" (Abb. 55,
Kat. 132) aus: vor einer Phantasielandschaft in Art der
Madrider und Münchener Städte-Allegorien der Welt
(Kat. 1-121) erhebt sich auf einer schmalen Vordergrunds-
appplikation eine mächtige, fast den gesamten Bildraum
verschließende, damit Landschaftsraum vernichtende
Mauer aus Kalkstein, vor den sich effektvoll im Bedeu-
tungsmaßstab gegebene, viel zu große Insekten verschie-
denster Art wirkungsvoll in Szene setzen lassen. All diese
Tiere sind lebend dargestellt. Sie kriechen am Boden oder
an der Wand entlang, sie fliegen vor der Wand und vor
freiem Himmel. Sie sind keineswegs tote Darsteller eines
Stilllebens. Und doch sind sie nicht anders aufgefasst und
auch gemalt als in dem frühesten Stillleben dieser Art,
dem 1653 entstandenen ,Streumusterbild' „Schmetter-
linge und Käfer" (Abb. 56, Kat. 325), das der Maler in
zwei ähnlichen, teilweise identischen Variationen malte:
der Urfassung von 1653 (Abb. 56) sowie einer in der An-
zahl der Motive weitgehend identischen Variante, die drei
Jahre später, 1 656, entstand.
Diese Insekten und Kriechtiere, allein in Form von
Streumusterbildern oder in Form von dreidimensionalen
Miniaturräumen, angereichert durch Blumen, Früchte
und Muscheln, bilden eine verhältnismäßig homogene
Werkgruppe der Zeit 1653 bis 1661. Eine wie auch im-
mer geartete Entwicklung in dieser kurzen, etwa ein Jahr-
zehnt umfassenden Zeit ist nicht festzustellen. Von Be-
ginn an treffen wir auf reine ,Streumusterbilder' (Abb. 56,
Kat. 325; Abb. 57, Kat. 327; Abb. 58, Kat. 328; Abb. 59,
Kat. 329; Abb. 60, Kat. 330; Abb. 61, Kat. 348)42. Am
Beispiel des Bonner Gemäldes (Kat. 356) erläutert Schütz
seinen ,Streumuster'-Begriff: „Hier sind die verschiedenen
Studien kleiner Tiere ohne Überschneidungen gleichmä-
ßig wie ein Streumuster auf hellem Grund verteilt ... sind
wie auf einer Lehrtafel ... nebeneinander dargestellt.
..."43. Im Jahr 1660 mit dem im Gegensatz zum Bonner
Museumsbild, das zu den größten Kupferplattengemäl-
den (39,3 x 56,2 cm) des Malers zählt, kleinen Kupfertä-
felchen des ,Normalmaßes' (17 x 23 cm) des Straßburger
Museums (Abb. 61, Kat. 348) malt van Kessel sein letztes
datiertes Streumusterbild mit Insekten. „...Alle hier darge-
stellten Tiere, neun Insekten und eine Spinne, kommen,
wenn auch in anderer Anordnung, übereinstimmend
auch auf dem Bonner Bild vor, auf dem insgesamt viel
mehr Tiere dargestellt sind. ..."44.
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JVK 1: Stillleben mit Insekten
Die gegenwärtige Einschätzung der Forschung zum Still-
lebenmaler JVK I geben die Bemerkung von Karl Schütz
anlässlich der Ausstellung „Das Flämische Stillleben"
2002 wieder: „In der zweiten Hälfte des 17. jh. fasste Jan
van Kessel als nachgeborener Eklektiker die verschie-
denen Spielarten des aus Naturstudien hervorgegangenen
Stilllebens wie des enzyklopädischen Kunstkammerbildes
zusammen. Als Enkel Jan Brueghels d. Ä. - Jan Kessels Va-
ter Hieronymus war Mitarbeiter in der Werkstatt Jan Bru-
eghels und hatte dessen Tochter Paschasia zur Frau ge-
nommen - war er, wie es der Brueghel'schen Familientra-
dition entsprach, dazu prädestiniert, an die Malerei seines
Großvaters anzuschließen, sie zu kopieren und zu variie-
ren. ... Ebenso griff er auf die Kabinettminiaturen Joris
Hoefnagels zurück, entkleidete sie ihrer geistreichen und
gelehrten emblematischen Bedeutung und beschränkte
sich auf die gefällige Anordnung von Blüten, Früchten
und Insekten zu kleinen Stillleben ..., wobei er sich vor
allem auf den Formenschatz der Archetypa ... stützen
konnte. Originell ist Jan van Kessel vor allem in seinen
Streumusterbildern ..., die einzelne, ebenfalls vorwie-
gend auf Joris Hoefnagel zurückgehende Naturstudien
ohne räumlichen Zusammenhang wie die späteren natur-
wissenschaftlichen Illustrationen einer Schautafel neben-
einander anordnen ..."4°.
Van Kessel sprengt alle Gattungsbegriffe, seine Land-
schaften sind nicht der Natur nachempfundene reale Räu-
me, seine Stillleben entsprechen nicht dem, was wir ge-
meinhin darunter verstehen: „Unter dem Sammelbegriff
Stillleben verstehen wir gemeinhin die Darstellung unbe-
wegter, zumeist kleinerer Gegenstände, Pflanzen und
regloser Lebewesen in bewusst arrangierter Anordnung,
die in erster Linie von formalen und malerischen Ge-
sichtspunkten geleitet ist, aber auch inhaltlich bedeutsam
sein kann. ... Bei dem Wort Stillleben bzw. seiner ur-
sprünglichen niederländischen Form ,stilleven' handelt es
sich um eine künstliche Sprachschöpfung, die aus der
Atelierpraxis der Maler entstand. Das Adjektiv still be-
zieht sich auf den Gegenstand der Darstellung und meint,
dass dieser unbewegt, still-liegend sei, während das Sub-
stantiv Leben nicht in der Bedeutung von lebendig ver-
wendet wird, sondern sich auf die Art der Darstellung,
das Malverfahren bezieht und bedeutet, dass die gemal-
ten Dinge dem Maler leibhaftig vor Augen standen, dass
sie, wie der niederländische Fachausdruck der Maler lau-
tet, ,naer het leven' gemalt sind... Ein Ausdruck, der auch
im Deutschen als ,nach dem Leben gemalt' vollkommen
verständlich ist - egal, ob es sich dabei um Lebendiges
oder Unbelebtes handelt, entscheidend ist vielmehr, dass
es sich nicht um eine Erfindung des Künstlers, sondern
um eine getreue Wiedergabe des Gesehenen han-
delt...."41.
Diese Gattungsverschränkung drückt sich perfekt in
dem Gemälde „Insekten an einer Steinplatte" (Abb. 55,
Kat. 132) aus: vor einer Phantasielandschaft in Art der
Madrider und Münchener Städte-Allegorien der Welt
(Kat. 1-121) erhebt sich auf einer schmalen Vordergrunds-
appplikation eine mächtige, fast den gesamten Bildraum
verschließende, damit Landschaftsraum vernichtende
Mauer aus Kalkstein, vor den sich effektvoll im Bedeu-
tungsmaßstab gegebene, viel zu große Insekten verschie-
denster Art wirkungsvoll in Szene setzen lassen. All diese
Tiere sind lebend dargestellt. Sie kriechen am Boden oder
an der Wand entlang, sie fliegen vor der Wand und vor
freiem Himmel. Sie sind keineswegs tote Darsteller eines
Stilllebens. Und doch sind sie nicht anders aufgefasst und
auch gemalt als in dem frühesten Stillleben dieser Art,
dem 1653 entstandenen ,Streumusterbild' „Schmetter-
linge und Käfer" (Abb. 56, Kat. 325), das der Maler in
zwei ähnlichen, teilweise identischen Variationen malte:
der Urfassung von 1653 (Abb. 56) sowie einer in der An-
zahl der Motive weitgehend identischen Variante, die drei
Jahre später, 1 656, entstand.
Diese Insekten und Kriechtiere, allein in Form von
Streumusterbildern oder in Form von dreidimensionalen
Miniaturräumen, angereichert durch Blumen, Früchte
und Muscheln, bilden eine verhältnismäßig homogene
Werkgruppe der Zeit 1653 bis 1661. Eine wie auch im-
mer geartete Entwicklung in dieser kurzen, etwa ein Jahr-
zehnt umfassenden Zeit ist nicht festzustellen. Von Be-
ginn an treffen wir auf reine ,Streumusterbilder' (Abb. 56,
Kat. 325; Abb. 57, Kat. 327; Abb. 58, Kat. 328; Abb. 59,
Kat. 329; Abb. 60, Kat. 330; Abb. 61, Kat. 348)42. Am
Beispiel des Bonner Gemäldes (Kat. 356) erläutert Schütz
seinen ,Streumuster'-Begriff: „Hier sind die verschiedenen
Studien kleiner Tiere ohne Überschneidungen gleichmä-
ßig wie ein Streumuster auf hellem Grund verteilt ... sind
wie auf einer Lehrtafel ... nebeneinander dargestellt.
..."43. Im Jahr 1660 mit dem im Gegensatz zum Bonner
Museumsbild, das zu den größten Kupferplattengemäl-
den (39,3 x 56,2 cm) des Malers zählt, kleinen Kupfertä-
felchen des ,Normalmaßes' (17 x 23 cm) des Straßburger
Museums (Abb. 61, Kat. 348) malt van Kessel sein letztes
datiertes Streumusterbild mit Insekten. „...Alle hier darge-
stellten Tiere, neun Insekten und eine Spinne, kommen,
wenn auch in anderer Anordnung, übereinstimmend
auch auf dem Bonner Bild vor, auf dem insgesamt viel
mehr Tiere dargestellt sind. ..."44.
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JVK 1: Stillleben mit Insekten