Trotz aller Phantasie des Malers, die zu Ungenauig-
keiten führte, ist es offensichtlich möglich, den größten
Teil der abgebildeten Tiere zoologisch zu bestimmen.
Dies unternahm E. Quinter vom American Museum of
Natural History in New York. An diesem Beispiel versu-
chen wir einen deutschen Namen für die englische Be-
nennung der 41 dargestellten Tiere zu finden, Quinters
Nummerierung (Abb. 86a) übernehmend:
1 Gemeine Landschnecke (Europa?); 2 Maulwurfsgrille
(Europa?); 3 Gemeiner Haus- oder Mauergecko; 4 Nacht-
faltermotte (Europa); 5 Raupe (vielleicht vom Schwalben-
schwanz-Schmetterling, s. Nr. 25); 6 ,Cracker'-Schmetter-
ling, Unterseite (Zentral- und Südamerika); 7 Hausmutter,
Eulenfalter Motte (Europa); 8 Roter Admiral, Tagfalter
Schmetterling (Europa); 9 Laubheuschrecke (Europa?); 10
Webspinne (Europa); 11 Stinkwanze oder Graue Feld-
wanze?; 12 Phantasieinterpretation eines Grashüpfers?;
13 Laufkäfer (Europa); 14 Roter Admiral (Europa, s. Nr. 8);
15 Blattkäfer (Europa?); 16 Distelfalter, Unterseite (Euro-
pa); 17 Puppe eines Schmetterlings?; 18 Distelfalter,
Oberseite (Europa); 19 Großer Kohlweißling (Europa); 20
Schmalflügelige Kleinlibelle (Europa?); 21 Küchenschabe
(Europa?); 22 Bananenfalter oder Eulenschmetterling
(Südamerika); 23 Giftiger Schwalbenschwanz-Schmetter-
ling (Mittel- oder Südamerika); 24 Brauner Bär, Falter; 25
Schwalbenschwanz Schmetterling (Europa); 26 Schwar-
zer Bär, Nachtfalter (Europa); 27 Phantasieprodukt?; 28
Zikade (Südamerika?); 29 Trichternetz-Spinne (Europa);
30 Schwarzkäfer (Europa?); 31 Gecko (Tropen?); 32
Hirschkäfer (Europa); 33 Bulldog-Ameise? (Tropen?); 34
Eidechse (Mittelmeerraum?); 35 Unterflügel Motte, Falter
(Europa); 36 Sonnenuntergang Motte (Südamerika); 37
Gottesanbeterin (Südamerika?); 38 Morpho (Schillernder
Schuppen-Schmetterling, Zentral- oder Südamerika); 39
Riesennashornkäfer (Südamerika); 40 Laternenzikade
(Südamerika); 41 Mistkäfer (Europa?)
Dem unvoreingenommenen Betrachter, der nur über
,normale' zoologische Kenntnisse verfügt, müssen die
Tiere van Kessels authentisch erscheinen in ihrer Detail-
genauigkeit, die auf Studien vor dem toten Objekt schlie-
ßen lassen. Sicherlich wird manches Motiv, wie das bei
JVK I üblich ist, von vorhergehenden künstlerischen Vor-
lagen inspiriert sein, aber gerade der Verweis auf diese
Vorlagen, insbesondere der auf die ,Archetypa' Hoefna-
gels51 verdeutlicht den Unterschied: aus den ornamen-
talen, stilistisch hochqualitätvollen Kunstprodukten, ge-
schaffen im Bemühen, Natürlichkeit mit künstlerischen
Mitteln glaubhaft zu machen, wird bei JVK I die Natur des
Tieres selbst in den Vordergrund gestellt, das Künstle-
rische dagegen zurückgedrängt. Das bestärkt auch das
Fehlen jedweder Symmetrie in dem gleichsam zufälligen,
allerdings gleichgewichtigen Verteilen über die gesamte
Bildfläche hinweg. Der Maler begibt sich mit solchen
Kompositionen auf die Ebene zoologischer Musterbücher,
die wenig später in großer Anzahl das naturwissenschaft-
lich Erforschte dem Auge des Betrachters darbieten wer-
den. Die Position von JVK I als genauer Naturbeobachter
und -schilderer lässt sich vielleicht fassen, wenn man ihn
einerseits als gläubigen Katholiken sieht, der in jedem Le-
bewesen, in jeder Pflanze, kurz in allem Irdischen die
Schöpfung Gottes sieht, eine Position, die uns insbeson-
dere in seinen religiösen Allegorien (vgl. Kat. 616-620) in
reinster Form offenbar wird, der aber in seinem Wissens-
und Beobachtungsdrang Teil der gerade im 17.Jh. Toben-
den' wissenschaftlichen Revolution ist, die bis zu Charles
Darwin versuchte, sich vom Übernatürlichen zu lösen
und das Wissen auf nachprüfbare Beobachtungen zu
gründen. Van Kessels Tier- und Pflanzendarstellungen
stellen eine wichtige Station auf diesem über Darwin bis
heute zu dem Atheisten Richard Dawkins' „Schöpfungs-
lüge" (2009) reichenden Weg der Auseinandersetzung
um Ursprung und Entwicklung irdischen Lebens.
Mit den drei letzten Insektendarstellungen, kombiniert
mit Früchten (Abb. 87, Kat. 444; Abb. 88, Kat. 445) und
Pflanzen (Abb. 89, Kat. 443), die JVK I in den 50er-Jahren
gemalt haben dürfte, überschreiten wir endgültig die Gat-
tung /Stillleben': in diesen drei Bildern kommt mit der
Maus, die einen Haselnusskern (Abb. 87) oder einen Wal-
nusskern (Abb. 88, 89) frisst, reales Leben ins Bild, darge-
stellt in der Handlung des Nagens. Mit diesen /Mäusebil-
dern' bewegt sich JVK I auf vertrautem familiären Terrain:
Mäuse in Kombination mit Blumen und Insekten malte
bereits der Großvater Jan Brueghel d. Ä. ein halbes Jahr-
hundert früher (um 1605) in zwei Miniaturen52 (vgl. Abb.
90), seinerseits Anregungen von Joris Hoefnagel53 aufneh-
mend. Diesen drei Gemälden van Kessels einen tiefer ge-
henden inhaltlichen Sinn zu unterlegen, wie Karl Schütz
das ansatzweise bei der Amsterdamer Darstellung Jan
Brueghels d. Ä. versucht hatte: „Maus und Raupe verkör-
pern den irdischen Aspekt, Rose und Schmetterling den
geistigen oder spirituellen; die Ameise, von der es in der
Bibel heißt: ,Die Ameisen sind kein starkes Volk, und be-
sorgen sich doch im Sommer ihr Futter', verbindet die
beiden Aspekte"54, halten wir für eine Überinterpretation,
die sich weder aus der Quellenlage noch aus der Darstel-
lung ergibt.
Abb.87 Jan van Kessel cl. Ä., Insekten, Maus und Kirschen. Paris, Gal.
d'Art St. Honore 1998 (Kat. 444)
Abb. 88 Jan van Kessel d.Ä., Insekten, Maus, Weintrauben und Kir-
sche. Paris, Gal. d'Art St. Honore 1998 (Kat. 445)
88
JVK 1: Stillleben mit Maus
keiten führte, ist es offensichtlich möglich, den größten
Teil der abgebildeten Tiere zoologisch zu bestimmen.
Dies unternahm E. Quinter vom American Museum of
Natural History in New York. An diesem Beispiel versu-
chen wir einen deutschen Namen für die englische Be-
nennung der 41 dargestellten Tiere zu finden, Quinters
Nummerierung (Abb. 86a) übernehmend:
1 Gemeine Landschnecke (Europa?); 2 Maulwurfsgrille
(Europa?); 3 Gemeiner Haus- oder Mauergecko; 4 Nacht-
faltermotte (Europa); 5 Raupe (vielleicht vom Schwalben-
schwanz-Schmetterling, s. Nr. 25); 6 ,Cracker'-Schmetter-
ling, Unterseite (Zentral- und Südamerika); 7 Hausmutter,
Eulenfalter Motte (Europa); 8 Roter Admiral, Tagfalter
Schmetterling (Europa); 9 Laubheuschrecke (Europa?); 10
Webspinne (Europa); 11 Stinkwanze oder Graue Feld-
wanze?; 12 Phantasieinterpretation eines Grashüpfers?;
13 Laufkäfer (Europa); 14 Roter Admiral (Europa, s. Nr. 8);
15 Blattkäfer (Europa?); 16 Distelfalter, Unterseite (Euro-
pa); 17 Puppe eines Schmetterlings?; 18 Distelfalter,
Oberseite (Europa); 19 Großer Kohlweißling (Europa); 20
Schmalflügelige Kleinlibelle (Europa?); 21 Küchenschabe
(Europa?); 22 Bananenfalter oder Eulenschmetterling
(Südamerika); 23 Giftiger Schwalbenschwanz-Schmetter-
ling (Mittel- oder Südamerika); 24 Brauner Bär, Falter; 25
Schwalbenschwanz Schmetterling (Europa); 26 Schwar-
zer Bär, Nachtfalter (Europa); 27 Phantasieprodukt?; 28
Zikade (Südamerika?); 29 Trichternetz-Spinne (Europa);
30 Schwarzkäfer (Europa?); 31 Gecko (Tropen?); 32
Hirschkäfer (Europa); 33 Bulldog-Ameise? (Tropen?); 34
Eidechse (Mittelmeerraum?); 35 Unterflügel Motte, Falter
(Europa); 36 Sonnenuntergang Motte (Südamerika); 37
Gottesanbeterin (Südamerika?); 38 Morpho (Schillernder
Schuppen-Schmetterling, Zentral- oder Südamerika); 39
Riesennashornkäfer (Südamerika); 40 Laternenzikade
(Südamerika); 41 Mistkäfer (Europa?)
Dem unvoreingenommenen Betrachter, der nur über
,normale' zoologische Kenntnisse verfügt, müssen die
Tiere van Kessels authentisch erscheinen in ihrer Detail-
genauigkeit, die auf Studien vor dem toten Objekt schlie-
ßen lassen. Sicherlich wird manches Motiv, wie das bei
JVK I üblich ist, von vorhergehenden künstlerischen Vor-
lagen inspiriert sein, aber gerade der Verweis auf diese
Vorlagen, insbesondere der auf die ,Archetypa' Hoefna-
gels51 verdeutlicht den Unterschied: aus den ornamen-
talen, stilistisch hochqualitätvollen Kunstprodukten, ge-
schaffen im Bemühen, Natürlichkeit mit künstlerischen
Mitteln glaubhaft zu machen, wird bei JVK I die Natur des
Tieres selbst in den Vordergrund gestellt, das Künstle-
rische dagegen zurückgedrängt. Das bestärkt auch das
Fehlen jedweder Symmetrie in dem gleichsam zufälligen,
allerdings gleichgewichtigen Verteilen über die gesamte
Bildfläche hinweg. Der Maler begibt sich mit solchen
Kompositionen auf die Ebene zoologischer Musterbücher,
die wenig später in großer Anzahl das naturwissenschaft-
lich Erforschte dem Auge des Betrachters darbieten wer-
den. Die Position von JVK I als genauer Naturbeobachter
und -schilderer lässt sich vielleicht fassen, wenn man ihn
einerseits als gläubigen Katholiken sieht, der in jedem Le-
bewesen, in jeder Pflanze, kurz in allem Irdischen die
Schöpfung Gottes sieht, eine Position, die uns insbeson-
dere in seinen religiösen Allegorien (vgl. Kat. 616-620) in
reinster Form offenbar wird, der aber in seinem Wissens-
und Beobachtungsdrang Teil der gerade im 17.Jh. Toben-
den' wissenschaftlichen Revolution ist, die bis zu Charles
Darwin versuchte, sich vom Übernatürlichen zu lösen
und das Wissen auf nachprüfbare Beobachtungen zu
gründen. Van Kessels Tier- und Pflanzendarstellungen
stellen eine wichtige Station auf diesem über Darwin bis
heute zu dem Atheisten Richard Dawkins' „Schöpfungs-
lüge" (2009) reichenden Weg der Auseinandersetzung
um Ursprung und Entwicklung irdischen Lebens.
Mit den drei letzten Insektendarstellungen, kombiniert
mit Früchten (Abb. 87, Kat. 444; Abb. 88, Kat. 445) und
Pflanzen (Abb. 89, Kat. 443), die JVK I in den 50er-Jahren
gemalt haben dürfte, überschreiten wir endgültig die Gat-
tung /Stillleben': in diesen drei Bildern kommt mit der
Maus, die einen Haselnusskern (Abb. 87) oder einen Wal-
nusskern (Abb. 88, 89) frisst, reales Leben ins Bild, darge-
stellt in der Handlung des Nagens. Mit diesen /Mäusebil-
dern' bewegt sich JVK I auf vertrautem familiären Terrain:
Mäuse in Kombination mit Blumen und Insekten malte
bereits der Großvater Jan Brueghel d. Ä. ein halbes Jahr-
hundert früher (um 1605) in zwei Miniaturen52 (vgl. Abb.
90), seinerseits Anregungen von Joris Hoefnagel53 aufneh-
mend. Diesen drei Gemälden van Kessels einen tiefer ge-
henden inhaltlichen Sinn zu unterlegen, wie Karl Schütz
das ansatzweise bei der Amsterdamer Darstellung Jan
Brueghels d. Ä. versucht hatte: „Maus und Raupe verkör-
pern den irdischen Aspekt, Rose und Schmetterling den
geistigen oder spirituellen; die Ameise, von der es in der
Bibel heißt: ,Die Ameisen sind kein starkes Volk, und be-
sorgen sich doch im Sommer ihr Futter', verbindet die
beiden Aspekte"54, halten wir für eine Überinterpretation,
die sich weder aus der Quellenlage noch aus der Darstel-
lung ergibt.
Abb.87 Jan van Kessel cl. Ä., Insekten, Maus und Kirschen. Paris, Gal.
d'Art St. Honore 1998 (Kat. 444)
Abb. 88 Jan van Kessel d.Ä., Insekten, Maus, Weintrauben und Kir-
sche. Paris, Gal. d'Art St. Honore 1998 (Kat. 445)
88
JVK 1: Stillleben mit Maus