Das braune Fleckerl. &===-
er alte brave Doktor, der die Patienten zu ihrer und seiner
Zufriedenheit fast ausschließlich mit Hausmitteln kuriert
hatte, war nach langer verdienstvoller Praxis heimge-
gangen. „Unfern hochgeschätzten lieben Hofrat in Ehren!" sagten
die Stadtväter, als sie die Neubesetzung der Stelle berieten. „Aber
wir sind es dem Ansehen des Gemeinwesens und der Gesund-
heit der Mitbürger schuldig, daß ben Posten jetzt ein Mann der
Wissenschaft erhält, der mit den neuesten Errungelischaftell
vertraut ist." — „Und der jung ist!" setzie insgeheim und in
vertraulichen Gesprächen jener Teil der weiblicheil Bevölkerung
hinzu, der aus einer stattlichen Anzahl unverehelichter Damell be-
stand und in seinen Erwartungen von dem Thor der Mütter
kräftig unterstützt wurde. Denn die Aussicht, „standesgemäß"
heiraten zu köillleil, war für die Beteiligten ttn Städtchen nicht
eben groß und der zukünftige Arzt bildete hierbei einen nicht un-
bedeutenden Faktor.
So kam es, daß Doktor Balduin berufen wurde, ein Mann
von glänzenden Zeugnisseil, der in der Metropole als Assistent
einer der ersten Leuchten der Wissenschaft bereits einen guteil
Nameil besaß, nach seiner, ganzen Lebensanffassuiig aber das
mehr beschauliche Dasein in einer angenehmen Provinzstadt der
ruheloseil Hetze in dem Getriebe der Residenz vorzog.
Da er zndenl ein hübscher junger Mann lvar, geschah es
sofort nach seinem Eiiitreffen in der Stadt, daß unter den jüngeren
Dainen, die von Haus aus bisher über eine tadellose Gesniidheit
verfügt, plötzlich eine eigeiltlich sehr bedauerliche Hinneigung zu
allerhand Beschwerden uild Zufälleil anftrat. Der Sprechstuiide
des neuen Arztes wurde dadurch eine ganze Schar von Patientinilen
zugeführt, die — eine nach der andern — mit ihren Müttern er-
schienen und im Einblick auf feinen hervorragenden wissenschaft-
lichen Ruf ihr peil in die Hand des Anköminlings legteil.
„Meine Emma" — sagte die Frau Stadtrat — „hat trotz
ihres täuscheilden blüheilden Aussehens seit einiger Zeit gailz
merkwürdige Erscheiilungen — Angstgefühl, Herzklopfen, schwere
Träume, melancholische Anwandlniigen, Schwiilde!" . . .
„Ja, ja," erklärte Doktor Balduin nach Untersuchung des
Falles mit sehr ernster Miene, „besoilders der Schwindel scheint
mir vorwiegend. Ich habe da aber ein ganz neues herrliches
Mittel, von dem ich mir sehr viel verspreche, wenil ich also
bitten darf: Don der Mixtur hier, die ich bitte nach dem Rezept
in der Apotheke Herstellen zu lassen, dreimal täglich fünfzehn
Tropfen — und wenn das Fläschchen aufgebraucht ist, bitte ich,
wieder zu mir zu kommen! Ich hoffe, daß bis dahin der Fort-
schritt schon sehr bemerkbar fern wird!"
Das Fräulein und ihre Mutter erhielten hi der Apotheke
eine wunderbar schön grünschimmernde Flüssigkeit in einer Flasche,
von der sie mit Mißbehagen feststellten, daß sie mindestens einen
halben Liter faßte und deshalb das wiedererscheinen bei dem
Arzte auf längere Zeit vereitelte. „Merkwürdig!" sagte der alte
Provisor schmunzelnd zum Apotheker. „Nichts anderes als mit
Minzentinktur gefärbtes Zuckerwasser — der neue Doktor
scheint mir ein großer Pstffikus und Schalk zu sein!"
Dann kam die Rendantenstochter mit sonderbaren rätselhaften
Aopszuständen, für die nach eingehender Untersuchung eine neue
vorzügliche Medizin — täglich zweimal zwanzig Tropfen — ver-
schrieben und ein wiederkonrmen nach Erledigung der ersten Flasche
verordnet ivnrde, die mindestens drei Ouart enthielt und — wie
der Provisor vertraulich zum Apotheker äußerte — ans Zucker-
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wasser bestand, das mit Himbeersyrup wunderbar rot ge-
färbt war.
So fanden sich allmählich sämtliche heiratsfähige „junge"
Damen des Städtchens bei dem neuen Arzte ein und wurden mit
prächtigen Mitteln erledigt, die einander an Glanz der Farbe und
Ouantum des Flascheninhalts nichts nachgaben. Dennoch glaubte
der Provisor bei jedem davon seine Analyse wiederholen zu dürfen.
Die jungen Damen schluckten fleißig Tropfen, waren innerlich
enttäuscht, schwärmten nach außen von den vorzüglichen Auren
des Doktors und trösteten sich bloß mit den immer größer werden-
den Flaschen der Mitbewerberinnen.
Nur Apothekers Lore, die das alles beobachtete und in ihrer
fidelen spitzbübischen Art mit dem alten Provisor weidlich darüber
lachte, kam nicht zu dem jungen Arzt. Sie erklärte ihm jedes-
mal, wenn er sie zufällig in der Offizin traf, auf sein Fragen
nach ihrem Besinden, daß es ihr ausgezeichnet gehe. Er seufzte
dann. Er seufzte immer lauter und stärker und hätte am liebsten
„Schade!" gemurmelt, wenn er dazu nicht viel zu höflich gewesen
wäre. „Aber" — sagte er da einmal und wurde ein wenig rot
dabei — „aber das kleine braune Fleckerl da neben dem
Näschen würde ich mir an Ihrer Stelle doch eigentlich wegätzen
lassen! Es geht ganz schmerzlos. Nicht, als ob es Ihr hübsches
Gesicht! wesentlich beeinträchtigen könnte; aber wenn es nicht
da wäre — das wäre doch ganz nett!"
Bei genauerem Zusehen im Spiegel entdeckte jetzt auch sie
das kleine braune Fleckerl, das sie bisher gar nicht beachtet hatte —
und sie konnte eigentlich dem jungen Arzte nicht unrecht geben,
daß es gleichwohl besser weg wäre. So begann denn in kurzem
die Behandlung, die sich freilich bei der auffallenden Hartnäckig-
keit des braunen Fleckerls etwas in die Länge zog. Bald war es
in der ganzen Stadt bekannt, daß Apothekers Lore von Doktor-
Balduin an einem sehr standhaften braunen Fleckerl neben der
Nase kuriert wurde — und weil sie sich dabei naturgemäß so
oft unwillkürlich in die Augen seheti nmßten, konnte es nicht
ausbleibeti, daß sie plötzlich eines Tages verlobt waren.
„M, die schlaue Aokette!" riefen da entrüstet sämtliche „junge"
Patientinnen und ihre Mütter. „Mir hat ja längst so 'was ge-
schwant! Sie hat ihn natürlich, so gescheit er sich vorkam und
so einfältig er wirklich ist, mit dem braunen Fleckerl eiirgefangen!"
— „Daß aber auch ich nicht an so ein braunes Fleckerl gedacht
habe!" fügten sie insgeheim zoritig bei — und der Stadtbach be-
kam an diesem Abend eine ganze Reihe wunderschön gefärbter
Tinkturen zu schlucken.
Am Höchsten indes wuchs die Entrüstung, als man nach der
Trauung auf dem Rückweg vom Standesamt die glückstrahlende
Braut genauer betrachtete. „Ja, was ist denn das?!" rief alles
und schlug hinter ihr vor Empörung die Hände zusammen. —
„Das braune Fleckerl, an den: er ein paar Monate herum-
kuriert hat — das braune Fleckerl — sie hat's ja überhaupt
noch!"...
„Und Du behältst es auch Dein Leben lang!" sagte der
junge Ehemann im Eisenbahnwagen auf der Hochzeitsreise zu
seiner vergnügt lächelnden Angetranten. „Denn das bin ich ihm
schon aus Dankbarkeit schuldig: Ohne dies kleine braune Fleckerl,
das mein einziger und letzter Strohhalm war, hätte ich mich ja
der spröden Prinzessin gar nieinals nähern können!"
Da lachte sie überlegen und sagte triumphierend: „O! Dil
wärst ja doch gekommen!" . . .
er alte brave Doktor, der die Patienten zu ihrer und seiner
Zufriedenheit fast ausschließlich mit Hausmitteln kuriert
hatte, war nach langer verdienstvoller Praxis heimge-
gangen. „Unfern hochgeschätzten lieben Hofrat in Ehren!" sagten
die Stadtväter, als sie die Neubesetzung der Stelle berieten. „Aber
wir sind es dem Ansehen des Gemeinwesens und der Gesund-
heit der Mitbürger schuldig, daß ben Posten jetzt ein Mann der
Wissenschaft erhält, der mit den neuesten Errungelischaftell
vertraut ist." — „Und der jung ist!" setzie insgeheim und in
vertraulichen Gesprächen jener Teil der weiblicheil Bevölkerung
hinzu, der aus einer stattlichen Anzahl unverehelichter Damell be-
stand und in seinen Erwartungen von dem Thor der Mütter
kräftig unterstützt wurde. Denn die Aussicht, „standesgemäß"
heiraten zu köillleil, war für die Beteiligten ttn Städtchen nicht
eben groß und der zukünftige Arzt bildete hierbei einen nicht un-
bedeutenden Faktor.
So kam es, daß Doktor Balduin berufen wurde, ein Mann
von glänzenden Zeugnisseil, der in der Metropole als Assistent
einer der ersten Leuchten der Wissenschaft bereits einen guteil
Nameil besaß, nach seiner, ganzen Lebensanffassuiig aber das
mehr beschauliche Dasein in einer angenehmen Provinzstadt der
ruheloseil Hetze in dem Getriebe der Residenz vorzog.
Da er zndenl ein hübscher junger Mann lvar, geschah es
sofort nach seinem Eiiitreffen in der Stadt, daß unter den jüngeren
Dainen, die von Haus aus bisher über eine tadellose Gesniidheit
verfügt, plötzlich eine eigeiltlich sehr bedauerliche Hinneigung zu
allerhand Beschwerden uild Zufälleil anftrat. Der Sprechstuiide
des neuen Arztes wurde dadurch eine ganze Schar von Patientinilen
zugeführt, die — eine nach der andern — mit ihren Müttern er-
schienen und im Einblick auf feinen hervorragenden wissenschaft-
lichen Ruf ihr peil in die Hand des Anköminlings legteil.
„Meine Emma" — sagte die Frau Stadtrat — „hat trotz
ihres täuscheilden blüheilden Aussehens seit einiger Zeit gailz
merkwürdige Erscheiilungen — Angstgefühl, Herzklopfen, schwere
Träume, melancholische Anwandlniigen, Schwiilde!" . . .
„Ja, ja," erklärte Doktor Balduin nach Untersuchung des
Falles mit sehr ernster Miene, „besoilders der Schwindel scheint
mir vorwiegend. Ich habe da aber ein ganz neues herrliches
Mittel, von dem ich mir sehr viel verspreche, wenil ich also
bitten darf: Don der Mixtur hier, die ich bitte nach dem Rezept
in der Apotheke Herstellen zu lassen, dreimal täglich fünfzehn
Tropfen — und wenn das Fläschchen aufgebraucht ist, bitte ich,
wieder zu mir zu kommen! Ich hoffe, daß bis dahin der Fort-
schritt schon sehr bemerkbar fern wird!"
Das Fräulein und ihre Mutter erhielten hi der Apotheke
eine wunderbar schön grünschimmernde Flüssigkeit in einer Flasche,
von der sie mit Mißbehagen feststellten, daß sie mindestens einen
halben Liter faßte und deshalb das wiedererscheinen bei dem
Arzte auf längere Zeit vereitelte. „Merkwürdig!" sagte der alte
Provisor schmunzelnd zum Apotheker. „Nichts anderes als mit
Minzentinktur gefärbtes Zuckerwasser — der neue Doktor
scheint mir ein großer Pstffikus und Schalk zu sein!"
Dann kam die Rendantenstochter mit sonderbaren rätselhaften
Aopszuständen, für die nach eingehender Untersuchung eine neue
vorzügliche Medizin — täglich zweimal zwanzig Tropfen — ver-
schrieben und ein wiederkonrmen nach Erledigung der ersten Flasche
verordnet ivnrde, die mindestens drei Ouart enthielt und — wie
der Provisor vertraulich zum Apotheker äußerte — ans Zucker-
227
wasser bestand, das mit Himbeersyrup wunderbar rot ge-
färbt war.
So fanden sich allmählich sämtliche heiratsfähige „junge"
Damen des Städtchens bei dem neuen Arzte ein und wurden mit
prächtigen Mitteln erledigt, die einander an Glanz der Farbe und
Ouantum des Flascheninhalts nichts nachgaben. Dennoch glaubte
der Provisor bei jedem davon seine Analyse wiederholen zu dürfen.
Die jungen Damen schluckten fleißig Tropfen, waren innerlich
enttäuscht, schwärmten nach außen von den vorzüglichen Auren
des Doktors und trösteten sich bloß mit den immer größer werden-
den Flaschen der Mitbewerberinnen.
Nur Apothekers Lore, die das alles beobachtete und in ihrer
fidelen spitzbübischen Art mit dem alten Provisor weidlich darüber
lachte, kam nicht zu dem jungen Arzt. Sie erklärte ihm jedes-
mal, wenn er sie zufällig in der Offizin traf, auf sein Fragen
nach ihrem Besinden, daß es ihr ausgezeichnet gehe. Er seufzte
dann. Er seufzte immer lauter und stärker und hätte am liebsten
„Schade!" gemurmelt, wenn er dazu nicht viel zu höflich gewesen
wäre. „Aber" — sagte er da einmal und wurde ein wenig rot
dabei — „aber das kleine braune Fleckerl da neben dem
Näschen würde ich mir an Ihrer Stelle doch eigentlich wegätzen
lassen! Es geht ganz schmerzlos. Nicht, als ob es Ihr hübsches
Gesicht! wesentlich beeinträchtigen könnte; aber wenn es nicht
da wäre — das wäre doch ganz nett!"
Bei genauerem Zusehen im Spiegel entdeckte jetzt auch sie
das kleine braune Fleckerl, das sie bisher gar nicht beachtet hatte —
und sie konnte eigentlich dem jungen Arzte nicht unrecht geben,
daß es gleichwohl besser weg wäre. So begann denn in kurzem
die Behandlung, die sich freilich bei der auffallenden Hartnäckig-
keit des braunen Fleckerls etwas in die Länge zog. Bald war es
in der ganzen Stadt bekannt, daß Apothekers Lore von Doktor-
Balduin an einem sehr standhaften braunen Fleckerl neben der
Nase kuriert wurde — und weil sie sich dabei naturgemäß so
oft unwillkürlich in die Augen seheti nmßten, konnte es nicht
ausbleibeti, daß sie plötzlich eines Tages verlobt waren.
„M, die schlaue Aokette!" riefen da entrüstet sämtliche „junge"
Patientinnen und ihre Mütter. „Mir hat ja längst so 'was ge-
schwant! Sie hat ihn natürlich, so gescheit er sich vorkam und
so einfältig er wirklich ist, mit dem braunen Fleckerl eiirgefangen!"
— „Daß aber auch ich nicht an so ein braunes Fleckerl gedacht
habe!" fügten sie insgeheim zoritig bei — und der Stadtbach be-
kam an diesem Abend eine ganze Reihe wunderschön gefärbter
Tinkturen zu schlucken.
Am Höchsten indes wuchs die Entrüstung, als man nach der
Trauung auf dem Rückweg vom Standesamt die glückstrahlende
Braut genauer betrachtete. „Ja, was ist denn das?!" rief alles
und schlug hinter ihr vor Empörung die Hände zusammen. —
„Das braune Fleckerl, an den: er ein paar Monate herum-
kuriert hat — das braune Fleckerl — sie hat's ja überhaupt
noch!"...
„Und Du behältst es auch Dein Leben lang!" sagte der
junge Ehemann im Eisenbahnwagen auf der Hochzeitsreise zu
seiner vergnügt lächelnden Angetranten. „Denn das bin ich ihm
schon aus Dankbarkeit schuldig: Ohne dies kleine braune Fleckerl,
das mein einziger und letzter Strohhalm war, hätte ich mich ja
der spröden Prinzessin gar nieinals nähern können!"
Da lachte sie überlegen und sagte triumphierend: „O! Dil
wärst ja doch gekommen!" . . .