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Stammtisch „Göte".

Line geometrische Reihe von Oskar Kroll.

Der Tiefsinnige.

^jpNie ganze Geschichte handelt eigentlich davon, wie sie sich
^ selbst entdeckte und er entdeckt wurde, indem sie sich in ihm
entdeckte.

Sie kam durch die hohle Gasse der Bleichsucht, mit vier Bänden
Peine und dem Unsagbaren in Uleertiesen in die Jahre, wo man
ansängt zu lieben.

Die Scham verbot ihr sich einzugestehen, daß sie verliebt sei
in den Namenlosen, Unnennbaren, den großen Unbekannten, den
vermummten Perm. . .

Aber das war es ja alles nicht; es war ganz etwas anderes,
ein ganz anderes Anderes, es war der Tiefsinnige.

Nun suchte sie den Tiefsinnigen, den tiefen Mann. Endlich
fand sie ihn.

Sie sagte es ihm gleich. Er war sehr überrascht. Als er sich
von dem Schlag erholt hatte, begann er in sich zu wühlen nach
dem Tiefsinnigen. Er wollte dreh'n und deuten: blödsinnig, schwach-
sinnig; Auslösen in Bestandteile: tief-sinnig. Aber immer blieb es
gleich schwer und verantwortungsvoll, tiefsinnig zu sein.. Er Hub
an mit einer Reform der deutschen Rechtschreibung, indem er
sämtliche x in u verwandelte, wurde Musikkritiker an einer großen
Tageszeitung, kristallisierte aus Kub-, Futur- und Dadaismus den
Ismus an sich, freundete sich mit einem Oberlehrer an und . . .

Doch das war ihm alles noch zu wenig tiefsinnig.

Er wollte ganz etwas tief Tiefsinniges.

Manchmal sprang es ihm aus Wörtern entgegen wie: sozu-
sagen, etwas, gewissermaßen, oder aus Redewendungen: unter
Umständen, aus Ehr und Gewissen, es kommt drauf an...

Doch das war's auch noch nicht, wie man sich doch täuschen
kann I Endlich, an einem Sonntag, nachmittags fünf Uhr sünfund-
fünfzig, „überkam" es ihn.

Das war nun allerdings das Abgründige, Grundlose, Imagi-
näre, Inkommensurable: Die Idee: Stammtisch Güte.

Der Kritiker.

Dieses Unmenschliche an Produktivität forderte mit Notwen-
digkeit einen Gegenpol: den nüchternen Kritiker. (Bitte keine
Tautologiel)

Der hatte eine lange rote Nase, das Kriterium des Unfehl-
baren, Jmmerrechthabenden. Und das ist doch der Kritiker, muß
er sein.

Sie fanden sich so.

Im Kaffeehaus. Der Tiefsinnige bietet ihm eine Zigarette
an: „Rauchen Sie?"

Der Kritiker: „Nein."

Nach fünf Minuten zieht er seine Pfeife und qualmt den leib-
haftigen Urnebel.

Vorwurfsvoller Blick des Tiefsinnigen.

Der Kritiker: „Der Tabak raucht . . ."

Eisiges Schweigen.

vorsichtig rudert der Tiefsinnige. Endlich: „Erlauben Sie, daß
ich Ihnen meine Gedichte. . ."

Der Kritiker nimmt ihm das Pest aus der pand, durchdringt
es mit einem Blick und gibt es zurück: „Mist . . ."

Grönländisches Schweigen.

Der Tiefsinnige ballt seine Produktivität zu einem Riesen-
wurf: 2x2 — 5.

Der Kritiker: „Ja."

Polares Schweigen.

Bis zur Polizeistunde.

Der Tiefsinnige holt aus: „Ja."

Der Kritiker: „Nein . . ."

Dann fanden sich ihre pände.

Der S ch w eigend e.

ADenn ein recht reifer Sommertag überm Land liegt, wenn
die Frucht tief zur Erde biegt und Gewitter schwer und schwanger
in den Bergen hängen, dann singt kein Vogel, rauscht kein Baum,
kein Grashalm flüstert. Die Welt reift schweigend.

So auch er: reif und schwer und schwanger und — schweigend.
Aber auch ein pumorist mit urwüchsigem Mutterwitz, ein Unikum,
ein Original, wer ihn so sitzen sah, hätte es nicht geglaubt.
Gemeißelt, feierlich, steingewordenes Fleisch.

pinter ihm huschten Gerüchte: daß er ein zwölfbändiges Werk
über die Kunst des Schweigens schreibe, daß er auf einen Sitz im
Reichstag kandidiere, daß er das Leben für eine Pause zwischen
Geburt und Tod halte. . .

Aber der pumorist war immer noch nicht gefunden.

Eines Abends stritt man, ob Bismarck gesagt habe „wir
Deutsche" oder „wir Deutschen".

Mm: war erregt, hitzig, heftig. Lin Faustschlag fuhr auf den
Tisch: „wir Deutsche—e .. ."

Line elektrische Lampe prasselte herunter: „wir Deutschen-n ..."

Gewitterstimmung, Explosion, nur mehr einen Moment
und —-

Da Härte man ein Knacken. Alles wendet sich dem Schweiger
zu. Der ist redefertig. Die Kinnladen geöffnet, die Zunge in der
Schwebe, ein Wort rollt herauf.

Alles ist gespannt, springt von den Stühlen, beugt sich vor.

Der Kritiker rührt die Ohren . . .

wieder ein Knacken. Die Kinnladen schlagen zu wie Tore
hinter dem Gefangenen. Mieder Stein und Erz. —-

Dann löst es sich wie ein Bann: peulen, Johlen, Jauchzen,
Jubeln, Umarmung der Statue, Feier bis in die Nacht. Das war
noch nie dagewesen: So ein Kapitalspaß.

Ist er nicht ein Urviech?

Der Skeptiker.

Helbstverständlich wurde nur Gleichwertiges, Geniales aus-
genommen.

Da war der Mann mit dem Grabbekops. Drei viertel des
Gesichts nahm die Stirn ein und das war für ihn Symbol genug,
damit gegen die wand zu rennen. Natürlich stieß er sich blutig;
denn ein Betonblock ist selbst für einen Grabbekops zu hart. Der
Erfolg war ein Skeptiker.

Auf seinem Mienenrepertoir stand nur ein Lächeln, wie es
große Tragöden in Zivil haben. Und seine Geste war: „Seht Ihr!"

Mit dem Tiefsinnigen, dem Kritiker und dem Schweigenden
kam er aus Parsival.

Der Tiefsinnige brummte das Erlösungsmotiv, der Schweigende
stöhnte, selbst der Kritiker schwieg.

Der Skeptiker aber zog seine Geldbörse, wies ihnen die gäh-
nende Tiefe: „Seht Ihr!"

Sie schüttelten die Päupter. Der Skeptiker triumphierte: „Seht
Ihr!"-

Bei den Zusammenkünften brannten Kerzen. Alles saß um
den Tisch. Der Tiefsinnige versank in seine Unerschöpflichkeit, der

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