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Die Geschichte vom Gurkenglas und der Ehescheidung.

Still stand das Gurkenglas. In herrlichen roten und grünen
Lettern prangte die Aufschrift: „Echte Znaimer Gewürzgurken". Das
mar aber eine Irreführung. Denn in dem Gurkenglas befand sich
Milch. Fünf Liter weiße, dicke, vollrahmige Landmilch mit einigen
kostbaren Gbersperlen gegen den kjals zu.

Dieses Gurkenglas stand — wie gesagt — still. Und zwar
unter einer Bank in einem Waggon des Schnellzuges Amstetten—
Wien. Auf der Bank über dem Gurkcnglas aber lag — verführe-
risch hingestrcckt — ein Mann in besten Jahren und schlief. Nichts
verriet seine Zugehörigkeit zu dem Gurkcnglas.

Auf der Bank ihm gegenüber aber lag — ebenfalls verführe-
risch hingestreckt — ein junges, sehr hübsches und sehr blondes
Weib. Nichts verriet ihre Zugehörigkeit
weder zu dem Mann noch zu dem Gurken-
glas. — Daß zwischen den Dreien ein
Verhältnis bestand — in der Literatur
nennt man so etwas „Dreieck" —, wurde
erst durch ein später eintretendes Ereignis
der (Öffentlichkeit bekannt.

Ich, der ich das Glück hatte, dieses
Ereignis mitzuerleben, erriet aber bereits
vorzeitig, daß die beiden Hingestrcckten
durch das Band der Ehe verknüpft waren.

Denn nur ein Ehemann, dachte ich, liegt
auf der gegenüberliegenden Bank, dieweil
ein schönes, blondes Weib mit aufgelösten
Zöpfen und noch verschiedenen anderen
aufgelösten Sachen auf der herüberen liegt.

Meine Mutmaßung sollte sich später als
richtig erweisen. Einstweilen aber schliefen
die Beiden noch. Nichts verriet ufw.

Draußen dämmerte es beträchtlich.

Die ersten Sterne blitzten auf. Das Gurken-
glas mit der Milch stand — wie schon
zweimal erwähnt — still. Die Gbcrs-
perlcn schlenkerten gegen den Hals zu, der
mit den Resten eines sehr intimen weib-
lichen Wäschestückes verstopft war. Knapp
über dem ksals — in bedrohlicher Nähe — wippte, als der letzte
Ausläufer des geschilderten Ehemannes, ein Lutz mit einem ge-
nagelten Bergschuh.

Außer dem schlafenden paar, dem stillen Gurkcnglas und mir
befand sich nichts Außergewöhnliches in deni Abteil. Eine wunder-
bare Eintracht herrschte. — — —

Da inachte der Zug plötzlich eine jähe Wendung. Ein Stoß —
ein gräßliches Klirren — der Bcrgschuh hatte zu tief gewippt. Mit
einem wenig stilvollen Ruck fuhr die Blonde in die Höhe.

Der vielgcrühmtc Wolter-Schrei muß ein elendiges winseln
gewesen sein gegen das markerschütternde Gellen, das ihrer Brust
in grenzenloser Seelenqual entquoll. Die eine ihrer weißen, zarten
Hände fuhr blitzschnell zwischen die triefenden Scherben, die andere
formte sich zur Laust und traf den Mann dergestalt auf den Bauch,
daß er erwachte und sich langsam erhob. Gereiften, abgeklärten
Blickes überprüfte er die Situation.

„Mei' Milli", schrie die Blondine und hielt das Wrack des
Gurkenglascs.liebevoll umfaßt. Dank ihrer Geistesgegenwart war
noch ungefähr ein Liter der köstlichen Llüssigkeit erhalten geblieben.
„Des hast ma' mit Lleiß g'macht — Du — Du —, weilst ttia’s
net vagunnst, weilst ma' neidich bist!"

Der Mann war tief erschüttert, Hierauf warf er mir einen
Blick innigster Dankbarkeit zu, der gleichsam auszudrücken schien:
„Sei gepriesen, o Lremder! Deine Anwesenheit hat mir das Leben
gerettet." Sodann senkte er demütig das Haupt, schloß die Augen
und harrte seiner Züchtigung.

Das schöne Weib aber sprach nunmehr zu mir: „Se hanl's
g'seg'n! Des hat er mit Lleiß g'macht. wann a wein d'ring'west
wa', hätt' er's g'wiß net z'sammg'haut."

Da raffte sich der Gatte auf: „Geh', red' net! wer wird denn
so dumm sei' und mit Lleiß a Milliflasch'n z'sammhau'n! A so a
bled's Red'n! Überhaupt g'hört a Milli in a urndliche Blcchkan'l
und net in a Gurk'nglas!" Und er griff in die linke Hosentasche,
entnahm derselben ein großes Stück Wurst,
schnitt nachdenklich eine mächtige Scheibe
davon herunter und reichte sie ihr dar:
„Da hast, Annerl, iß!"

„Aber, Hab' mi' gern!" Die Wurst
flog zu Boden, daß das Helle, weiße Bäch-
lein, das sich lieblich zwischen den Bänken
dahinschlängeltc, erregt ans den Ufern trat.
„Schau' Di' Haber um a Llafch'n um, daß
i' wenigstens des Lackl da hambring I"
Er zögerte.

„Schau' Di' um, sag' i'!"

Da ging er. Ging den ganzen Zug
durch, steckte in jeden 2tbtcil den Kopf
hinein und schrie: „Bitt' schön, Ham S'
vielleicht a leere Llafch'n?"

Inzwischen brachte Annerl ihre Toi-
lette in Mrdnung und schilderte mir in
herzzerreißenden lvorten den ganzen Le-
benslauf des Ruchlosen. „Mit an Mann
is ma' g'straft", schloß sie ihre Ausfüh-
rungen, „überhaupt mit so an, der was
am alles cinineid't."

Dann riß sic mir die Abendzeitung
aus der Hand und deckte mit den ein-
zelnen Blättern schamvoll den Milchbach
zu, der bereits stellenweise ein seeartiges Gepräge angenommen
hatte. — Da öffnete sich die Tür. Er trat ein. Bleich, verstört,
gebrochen. Sein Stammeln war kaum hörbar: „Ls hat kaner ka
Llafch'n net!"

„Dann steigst in Sankt Pölten aus und kaufst anc im Büfett!"

„Hoffentlich geb'n f' ma ane."

„was? Na, mehr brauchst net!" Annerl sank erschöpft auf
die Bank und drückte das halbe Gurkenglas zärtlich an sich. Er
sah sehnsüchtigen Blickes aus dem Lenster, nach der Richtung
Sankt Pölten.

Endlich! Der Zug hielt. — wie ein Pfeil war er draußen.
Einige Unglückliche, die ihm in den weg liefen, trat er erbarmungs-
los um, eine alte Dame kreischte, eine Hutschachtel flatterte durch
die Luft, ein Kellner flog zur Seite-—

Annerl lächelte müd. Da trat der Schaffner ein: „Bitte, Lahr-
kartcn vorweisen I"

„Jeffasmaria, jetzt hat der Mann unsere Karten!" Dabei sah
sie mich so hilflos und flehentlich an, daß mein Herz hold erbebte.
Ich lief ans Lenster. Der „Mann" war nicht zu sehen.

Da kam mir ein großartiger Gedanke. Ich eilte zur Tür,
sprang die Stufen hinunter und stürzte mich in das Gewoge, immer

Scheren s ch n i t t.

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Scherenschnitt"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsdatum (normiert)
1923 - 1923
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Digitales Bild
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In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 159.1923, Nr. 4070, S. 34

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