D E R * S O M M E R
HOLZSCHNITT VON HERMANN VIEL
A in Strande
Von Hans Bethge
Ein heißer Sommertag auf Westerland-Sylt. Ich hatte in
einer der Restaurationshallen, die sich unter den Dünen an-
elnanderreihen, zu Mittag gegessen. Als ich mich erhob, war
es etwa halb vier.
Ich schritt die kurze Holztreppe zum Strand nieder und suchte
mir möglichst nahe dem Wasser und etwas seitab, wo die Strand-
körbe nicht so gedrängt standen, einen Fleck zur Ruhe.
Aus den Strandkörben leuchteten Frauentoiletten. Die Stühle
waren von Herren, die meist rittlings saßen und mit ihren Spa-
zierstöcken Figuren in den Sand malten, in Beschlag genommen.
Kinder mit Schaufeln und kleinen Holzkäbnen, die an Strippen
gebunden waren, liefen hin und her, und seitwärts vor einem
Zelt sah ich drei junge Leute mit zerhauenen Gesichtern im Sand
liegen, Skat spielen und Schnäpse trinken. Ein Dust türkischer
Zigaretten drang von ihnen herüber. Ihre schneeweißen Strand-
kostüme blendeten, von der Sonne beschienen, meine Augen.
Ein Kellner trug auf einer silbernen Tablette Kaffee und Kucken
nach einem der Körbe, und etwa zwanzig Schritte vor mir-.
Als ich das sah, was sich da zwanzig Schritte vor mir be-
fand, trat alles andere jählings hinter einem undurchdringlichen
Vorhang zurück. Ich hatte nur noch für dieses eine. Kostbare,
Riegesebene Augen. Alles andere war Luft.
Etwa zwanzig Schritte vor mir saß ein junges Mädchen.
Sie drehte mir den Rücken zu — das war schade. Aber auch
so schon war sie imstande, mich zu entzücken.
Solch eine Taille hatte ich noch nicht gesehen. Ich habe die
feingeschwungenen Konturen noch deutlich in der Erinnerung:
traumhaft weich und zart wie der Leib einer Sirene. Es war
ein so vollendetes Ebenmaß, in schmiegsamem Schwünge nach
oben, daß man sich die Brust und ihre Linien sofort dazudenken
mußte. Diese Brust mußte wie eine schöne Welle sein, und der
Atem, der sic langsam hob, mußte so ruhig gehen wie der Atem
eines schlafenden Kindes.
Ihr Hals war marmorwciß. Ein blondes Haar ringelte sich
darauf nieder und schmückte ihn. Dieses Haar war wundervoll.
Es war aschblond, vom Schimmer der Gerste, mußte ihr,
wenn sie es löste, bis zu den Knieen fließen. So üppig war es,
so voll. Es lag auf diesem jungen Kopf gleich der Krone auf
dem Scheitel einer Fürstin, locker, ganz locker cmporgcstcckt,
wie man es häufig bei den Engländerinnen sehen kann.
Zwei sylphcnhaft kleine Ohren, ohne Gehänge, lachten an
beiden Seiten hervor. Ihr Kopf war ein wenig nach vorn ge-
neigt,- sie las in einem Buche.
Einen Schleier trug sic nicht. Ick malte mir zum Greifen
deutlich ein junges Gejichtchen aus. Ick sah in Gedanken die
bohe, freie Stirn, die edle Rase, das wcichgcrundctc Kinn, die
Wangen, bleich, mit einem roja Duft, ich jah den Mund, stolz
geschnitten, aber nicht herbe, sondern stolz und blühend und reich
an Hoheit, wie bei einer unnahbaren Königin.
Und dann die Augen. Die Augen, die des Menschen sicht-
bare Seele sind,- die alles in sich schließen können: Haß und
Liebe, Glück, Verachtung, Leidenschaft, alles.
Sie mußten blau sein. Tiefblau, wie frisch erblühte Garlen»
veilchcn, und groß und unergründlich. Ich fühlte sie leuchten
in meiner Phantasie. Aber dann wurde ich mir plötzlich be-
wußt: sie waren ja gar nicht blau. Blau? Wie hatte ick
das nur denken können I Sie waren ja grün, meergrün, mit
einem feinen Schimmer ins goldene. Ja, grün mußten sie
sein — ohne Zweifel. Grün wie das Meer, auf dem die
Sonne liegt. (Rortf.ecft«397)
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HOLZSCHNITT VON HERMANN VIEL
A in Strande
Von Hans Bethge
Ein heißer Sommertag auf Westerland-Sylt. Ich hatte in
einer der Restaurationshallen, die sich unter den Dünen an-
elnanderreihen, zu Mittag gegessen. Als ich mich erhob, war
es etwa halb vier.
Ich schritt die kurze Holztreppe zum Strand nieder und suchte
mir möglichst nahe dem Wasser und etwas seitab, wo die Strand-
körbe nicht so gedrängt standen, einen Fleck zur Ruhe.
Aus den Strandkörben leuchteten Frauentoiletten. Die Stühle
waren von Herren, die meist rittlings saßen und mit ihren Spa-
zierstöcken Figuren in den Sand malten, in Beschlag genommen.
Kinder mit Schaufeln und kleinen Holzkäbnen, die an Strippen
gebunden waren, liefen hin und her, und seitwärts vor einem
Zelt sah ich drei junge Leute mit zerhauenen Gesichtern im Sand
liegen, Skat spielen und Schnäpse trinken. Ein Dust türkischer
Zigaretten drang von ihnen herüber. Ihre schneeweißen Strand-
kostüme blendeten, von der Sonne beschienen, meine Augen.
Ein Kellner trug auf einer silbernen Tablette Kaffee und Kucken
nach einem der Körbe, und etwa zwanzig Schritte vor mir-.
Als ich das sah, was sich da zwanzig Schritte vor mir be-
fand, trat alles andere jählings hinter einem undurchdringlichen
Vorhang zurück. Ich hatte nur noch für dieses eine. Kostbare,
Riegesebene Augen. Alles andere war Luft.
Etwa zwanzig Schritte vor mir saß ein junges Mädchen.
Sie drehte mir den Rücken zu — das war schade. Aber auch
so schon war sie imstande, mich zu entzücken.
Solch eine Taille hatte ich noch nicht gesehen. Ich habe die
feingeschwungenen Konturen noch deutlich in der Erinnerung:
traumhaft weich und zart wie der Leib einer Sirene. Es war
ein so vollendetes Ebenmaß, in schmiegsamem Schwünge nach
oben, daß man sich die Brust und ihre Linien sofort dazudenken
mußte. Diese Brust mußte wie eine schöne Welle sein, und der
Atem, der sic langsam hob, mußte so ruhig gehen wie der Atem
eines schlafenden Kindes.
Ihr Hals war marmorwciß. Ein blondes Haar ringelte sich
darauf nieder und schmückte ihn. Dieses Haar war wundervoll.
Es war aschblond, vom Schimmer der Gerste, mußte ihr,
wenn sie es löste, bis zu den Knieen fließen. So üppig war es,
so voll. Es lag auf diesem jungen Kopf gleich der Krone auf
dem Scheitel einer Fürstin, locker, ganz locker cmporgcstcckt,
wie man es häufig bei den Engländerinnen sehen kann.
Zwei sylphcnhaft kleine Ohren, ohne Gehänge, lachten an
beiden Seiten hervor. Ihr Kopf war ein wenig nach vorn ge-
neigt,- sie las in einem Buche.
Einen Schleier trug sic nicht. Ick malte mir zum Greifen
deutlich ein junges Gejichtchen aus. Ick sah in Gedanken die
bohe, freie Stirn, die edle Rase, das wcichgcrundctc Kinn, die
Wangen, bleich, mit einem roja Duft, ich jah den Mund, stolz
geschnitten, aber nicht herbe, sondern stolz und blühend und reich
an Hoheit, wie bei einer unnahbaren Königin.
Und dann die Augen. Die Augen, die des Menschen sicht-
bare Seele sind,- die alles in sich schließen können: Haß und
Liebe, Glück, Verachtung, Leidenschaft, alles.
Sie mußten blau sein. Tiefblau, wie frisch erblühte Garlen»
veilchcn, und groß und unergründlich. Ich fühlte sie leuchten
in meiner Phantasie. Aber dann wurde ich mir plötzlich be-
wußt: sie waren ja gar nicht blau. Blau? Wie hatte ick
das nur denken können I Sie waren ja grün, meergrün, mit
einem feinen Schimmer ins goldene. Ja, grün mußten sie
sein — ohne Zweifel. Grün wie das Meer, auf dem die
Sonne liegt. (Rortf.ecft«397)
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Sommer"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1924 - 1924
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 161.1924, Nr. 4125, S. 394
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg