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„DER BUB7 MUSS EINMAL SEINE PRÜGEL HABEN!

Eine vergnügliche Gelchichte von Karl Ettlinger

(Die große Szene ist überstanden: Meister Bürstenkorn hat dem
ihm unliebsamen Kanzleischreiber Philipp dieHand seiner Tochter
verweigert. Noch durchflutet Wut sein ganzes 3nnres — da fällt
ein neuer Schatten auf seine Seele.)

(Forts. 1Z) Als Gustav bei Tisch saß und sein Blick das Fritzchen streifte,
fiel ihm wieder sein schreckliches Gelübde ein, noch am heutigen Tage die
Lehre von der väterlichen Autorität in Keilschrift auf dessen Kehrseite zu
meißeln. Und zugleich dachte er: »Ob 'r wohl schon 'rer Katz en Lustballoo
hinne draagebunne hat? Merr hat noch gar nip miaue Heere! Vo, vielleicht
dhut er's gar net — er is ja so e braver Bub, so e ornlichcr Jung - och,
mei lieb Fritzche, dlr geht's grad so als wie delm Batter: aach du mußt viel
uugerecht leide — naa, ich glaab net, daß ich dich vermöwel - ich dhu'S
net — wann ich's doch bloß net verspreche hätt! — Vielleicht ts es am
gescheitste, merr verabrede uns haamlich: ich gebb derrzeh Fennich, wannsde

so kreischst, als ob ich dich verhaache dhät! — Ja, so wer' ich's mache!-

O Himmel, was is aus mei'm Familjelewe worn!... Frkeher, da war's
als wie des scheenste Blummebeet, die Veilcher der Ei'tracht hawwe drin
gewachst unn die petersilje der
Vachgiewigkeit, - awwer jetz
laast e Wildsau drin erum, die
bees Wildsau Ufflehnung, —
uni^ se verkratzt merr mei ganz
Gärtche, — unn mei Marie, die
hätschelt merr aach noch die
Wildsau, als wär's des goldigste
Schoßhündche! — Die Welt ts
meschucke, komplett meschucke,
unn Frankfort is die Gummi-
zell von dere allgemei 3rre-
Aastalt!-'

So meditierte Meister Bür-
stenkorn beim Essen, und sein
Zorn ebbte zu einer tiefen Me-
lancholie ab. Es tut ja dem Men-
schen immer wohl, wenn er flch
selbst bemitleidet, und tatsächlich
yat ja auch die größere Hälfte
der Menschheit allen Grund, zu
flch selber zu sagen: »Sc könne
merr leid dhun!"

Vicht nur des Vaterö schmerz-
lichtrübe Augen ruhten bei dieser Mahlzeit forschend auf dem vielversprechen-
den Kronprinzen der Dynastie Bürstenkorn, auch ein gar liebes blaues
Augenpaar richtete sich wiederholt auf sein selbstzufriedenes Lausbuben-
gesicht, nämlich jenes blaue Augenpaar, in das der Philipp zu tief hineln-
gesehen hatte, well das Lieschen zu weit damit herauSgeguckt hatte.

Hatte ihr der Fritz nicht versprochen, bei Tisch das Gespräch auf den
Philipp zu bringen und seines künftigen Schwagers Loblied in allen Dur-
und Molltonarten zu singen? Hatte er sich nicht dafür ln barer Münze be-
zahlen lassen? Weshalb sprach der Fritz nicht?

DerFrltz wußte natürlich ganz genau, weshalb die Blicke seiner Schwe-
ster ihn suchten. Aber er hatte es nicht so eilig. »Wart's ab, dumm Schnee-
gans I Vorerst eff' ich emal I 3ch redd, wann i ch Lust habb! 3wwerhaapts :
mei Geld haww ich, jetz hängt's ganz von meiner Gutmietigkeit ab, ob ich
lwwcrhaaptS was sag!"

Das Lieschen wurde ungeduldig und näherte unter dem Tisch ihren Fuß
den brüderlichcnWaden. Ein zarter Druck sollte ihm das Gedächtnis schärfen.

Aber sei eS nun, daß der Fritz solche Mittel der Mnemotechnik nicht
schätzte, oder daß der .Drickdruff" nicht sylphidenhaft genug ausgefallen
war, jedenfalls dachte flch der Fritz entrüstet: »Wart nor, dir geweehn
lch die Stiwweltelcgrafie ab I I" und trat mit seinem rechten Bein zurück
wie ein auSschlagendeS Pferd.

Gustav zuckte zusammen, den» dieser kräftige Fußtritt war an seine
Adresse gelangt. Doch er sagte nichts, er wollte keinen Streit. Er versuchte
lediglich, auS den Mienen der Umfltzendcn den freundlichen Absender zu
erraten, und scl» Verdacht blieb auf Marie haften. Denn der Fritz, der so
angestrengt eine Fliege an der Zimmerdecke beobachtete, konnte doch unmög-
lich der Übeltäter sein.

DaS Lieschen wartete, und als auch beim zweiten und letzten Gang
des Mittagessens daS Fritzchen die vorauSbezahltc Ware nicht lieferte,
landte sie dem ersten Telegramm ein zweites dringendes nach.

Das war dem Fritz zu viel. »Bin ich e Schuhabstreifer?" empörte er
sich. »Ei, dir wer' ich's bcsorje!" Und indem er alle Frechheit zusammen-
nahm, sagte er, ein Engel an Unbefangenheit: „tzeut morse bin ich aach
dem ekelhaste Kerl, dem Philipp, begegnet! Was merr der Mensch zewidder
is, — net rieche kann ich'n l 2wwr!gens haww ich geheert, der Juftizrat
Fuchs schmeißt'n nächstens eraus!"

Und dann sagte er schnell »Mahlzeit" und verschwand, denn Frau
Marie hatte ihre mütterliche Rechte in einer Weise erhoben, die nichts
Gutes verhieß.

Das Lieschen war erblaßt, ihre Augen füllten sich mit Tränen. 3hr
Jungmädchcnherz konnte den schändlichen Verrat nicht fassen. - Ja, liebes
Lieschen, dies sind die Folgen der Vorausbezahlung! Ob wir mit barem
Gelde vorausbezahlen oder mit unserer Liebe, mit unserem Vertrauen oder
unserer Ehre, — immer werden wir übers Ohr gehauen! Glücklich der
Menschenfreund, der nur um G e l d geprellt wird!....

Frau Marie sah ihre Zielscheibe entschwinden, aber deshalb nahm sie
noch lange nicht Gewehr bei Fuß. Sie wandte sich vielmehr an Gustav

und herrschte ihn an: »Vo, Herr
von Kinnerverweehner, wie hat
Ihne des gefalle?"

Am liebsten hätte der Gustav
erwidert: „Großartich hat mcrrs
gefalle I Ganz aus der Seel hat'r
merr geredt I", aber er zog es vor,
dasjenige zu sagen, was ich jedem
Jupiter bei zürnender Juno zu
sagen rate, nämlich: gar nichts.

„KaaAntwort isaacheAnt-
wort!" stellte Marie fest. »Gu-
stav, so wahr ich dek Fraa bin
unn bis jetz gltcklich war: wann
der Bub bis heut nacht net sei
Schmiss" hat, ich bleib net länger
im Haus I 3 ch guck net zu, wie
mei Bub e Verbrecher werd!
Mein Koffer pack ich unn geh
uff unn derrvoo I Unn 's Liesche
nemm ich mit! — So, jetz
waaßtde,woranSde bist! Mahl-
zelt >'

Und wieder einmal stand der
arme Gustav vor'm Berge wie jenes nützliche Haustier, über dessen unge-
zähmte Ausgabe der Philipp einen so schönen Marsch zu pfeifen wußte.

3n der ganzen deutschen Literatur gibt eS keine auch nur annähernd er-
schöpfende Schilderung der Seekrankheit. DaS ist eigentlich verwunderlich,
denn sonst sind ja so ziemlich alle Unappstitlichkeiten für literaturfähig erklärt
worden, und ich muß sagen: Da haben sich die Kaffeehausgocthes bisher ein
wundervolles Thema entgehen lassen. Vielleicht ist diese Lücke in der Lyrik
daraus zu erklären, daß die Seekrankheit ungemein schwierig zu schildern ist.
Selbst Heinrich Heine hat es in einem seiner Gedichte nur unvollkommen
fertiggebracht, und so kann man kaum erwarten, daß es mir gelingen
sollte. 3ch kann daher den Zustand, in dem sich Meister Bürslenkorn befand,
nur andeutungsweise schildern, und ich fürchte, der Leser wird vor dieser
Schilderung stehen wie vor einer hypermodernen Malerei: es kann eine
Seekrankheit sein, aber es kann auch ein Elfenreigen oder ein verunglücktes
Blumenstilleben sein.

Ja, Vielster Bürstenkorn glich einem Seekranken. 3hm war, der Schnei-
dertisch, auf dem er nun wieder hockte, hebe und senke sich in ungeheuerlicher
Berg- und Talfahrt - gleich mußte er an der Wand zerschellen - jetzt an
der Zimmerdecke — jetzt spielte der Sturm mit ihm Drehtopf — jetzt war
ihm, als müsse sich sein Kopf von den Halswirbeln löse», um auf eigene
Faust im Zimmer herumzusausen, - und wie alle Seekranken hatte auch
er nur den heißen Wunstb: »Liewer Gott, laß' die groß Seeschlang komme
unn mich ufffresse!"

Erst in den Abendstunden ließ der Orkan nach, und Gustav fühlte sich in
der Dschunke seines Schncidertisthes wieder einigermaßen flcher. Erschöpft
war er freilich bis zur Willenlosigkeit. Und war das verwunderlich? Marke,
seine gute, dicke Marie hatte ihm mit Davonlaufen gedroht, ihm, der sein
Leben lang sich liebend für seine Familie abgcrackert hatte, ihm, der für seine
Person stets so rührend anspruchslos gewesen war, der für alle seine Mühe
nur die eine Gegenleistung erwartet hatte: »Habbt mich e bisst lieb!" (J.folgi)

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Bub' muss einmal seine Prügel haben!"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

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Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsdatum
um 1924
Entstehungsdatum (normiert)
1919 - 1929
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 161.1924, Nr. 4132, S. 519
 
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