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„DER BUB' MUSS EINMAL SEINE PRÜGEL HABEN!

Eine vergnügliche Gelchichte von Karl Ettlinger

(Der phantasievolle Schneidermeister Bürstenkorn sieht seine
Familie in zwei feindliche Heerhaufen verwandelt: drüben seine
Frau Marie, seine Tochter Lieschen und ihr Bewerber Philipp,
hüben er und sein Sohn Fritz. Und diesen soll er auf Wunsch
der Mutter verprügeln.)

(Forts. 14) War das die Marie, mit der er einst in süßestem Geplauder am
abendlichen Main auf und ab gewandelt war, deren damals noch schlankere
Taille er mit seinem damals noch elastischeren Arm so bräutkgamlich eng
umschlungen hielt, — war das dieselbe Marie, die sich ganz von selbst, so
oft eine Wolke dem Mond die Augen zuhielt, zu ihm niedergebeugt hatte,
um den internationalen Wahlspruch „Schnäwwel aller Liebenden, ver-
einigt Euch I" durch einen minutenlangen Schmatz zu bestätigen? War das
dieselbe Marie, die eines Sommerabends auf einer gebcnedeiten Prome-
nadenbank, als er vergeblich nach Worten rang, ihr die Dauerhaftigkeit
seiner Gefühle und die Ehrbarkeit seiner Absichten zu beschwören, sich mollig
an ihn geschmiegt hatte und mit der resoluten Frage: »Guftavche, wann
heierate merr dann? Ich glaab,

's werd Zeit!" ihm einen Stein,
groß wie das Brünhildenbett
auf dem Feldberg, vom Herzen
gewälzt hatte?

War das die Marie, die
auf der Hochzeitsphotographie
so schmuck, so gut unterwachsen,
mit dem glückseligsten Es-ist-
errelcht-Gesicht neben dem da-
mals noch glatzenlosen Schnci-
dermeisterlein Gustav Bürslen-
korn prangte? War das die
Marie, die ihm einst ein klei-
nes, strampelndes, quäkendes
Etwas strahlend entgcgcngehal-
ten hatte: „Merr wolle 's Liesche
nenne!' Und die dann gesagt
hatte: „Danz net so meschugge
vor Glick im Zimmer erum,
ahler Schote! Wie willstde
dann ehrscht des nächste Mal
Hippe, wann der Stammhalter
kimmt?"

Und diese Marie, die ihn in all den vielen Jahren so treu bemuttert
hatte, die die Wurzel seines ganzen SeinS war, die Wurzel, ohne die sein
Lebensbaum verwelken, absterben mußte, — sie wollte ihm davonlaufen?

Gustav stützte den Kopf in die Hand und weinte.

Mutterseelenallein saß er in seiner Dschunke, trieb steuerlos mitten auf
dem Indischen Ozean und überließ sich hemmungslos der verzweifelten Er-
kenntnis: „Ich iS alles auS!"_

Glücklicherweise hat es die zwar nicht allweise, aber durchtriebene Natur
so eingerichtet, daß nicht nur die Henne, sondern auch der Mensch beim
Brüten gern gackert. Und so gackerte Gustav aus seinem Brüten empor
mit der längst fälligen Frage: „Uyn wer iS schuld draa?'

Und er beantwortete sich diese Frage ebenso schnell wie falsch: „Nor der
Philipp! Der hat merr mei Liesche verrickt gemacht, der hat der Marie en
Sack voll Flöh in de Kopp gesetzt, unn am liebste dhät 'r aach m e i Gehern
ZU Riehrei verzwerwclc! — Awwer ich nemm de Kampf uff — ich laff' mich
net von so'mc Drcckspah aus der Familjc erausschubbse — wie e Diger
wern ich kämpfe — Philipp, jetz peif i ch emal „Auf in de Kampf, Herero"!
— Wie c rauflustiger Gassebub stell ich mich vor dich hie unn stumb dich
MIt'm Elleboge: „Willstde was??' — Philipp, komm erunner in die Arena,
wannsdc Mut hast — merr wolle fechte — ave Gustav, morituri te salu-
tant...'

Er sprang wieder vom Tisch und ging in mächtigen Schritten auf und
ab. Er durchmaß die Werkstatt, auf seinen Metrrstab gestützt wie Friedrich
der Große auf den Krückstock, er verschränkte die Arme wie Napoleon, er
stellte, ohne eS zu wissen, lebende Bilder seines Heldenmutes. Und er über-
legte : „WaS hat der Philipp gefacht, des nidderträchtlg Schlappmaul?...
»Ge brauche se merr net zc gewwe, Ich hol se merr?' ... Ha, allweil geht

der Vorhang uff: entfiehrn will er se!-Wie der Parts mit der

schee Helena, so will 'r sich mlt'm Liesche dinn mache! — Awwer Se ver-
rechne Ihne: ich bin kaa Menclaus, — ich fang'n Trojanische Krieg aa,wie

en Frankfort noch net geguckt hat, - ich leg mich uff die Lauer, unn wannsde
geschliche kimmst, brech ich aus'm Hinnerhalt unn vertrommel derr dein
Oueffchekopp, bis de net mehr waaßt, sitzt die Nas vorne odder hinne! —
Ich wer' dich lerne, Frankforter Sabinerinne rauwe! — Heut nacht lass'ich
die Schlafzimmcrdhier uff, beim geringste Geräusch sterz ich eraus, unn dann,
Philipp, mach del Destament!"-

Er riß eine Hose aus dem Gestell und schüttelte sie ingrimmig, er walkte
daS unschuldige Beinkleid mit dem Meterstab gottserbärmlich durch, er hielt
Hauptprobe für die kommende Schlacht. Und dabei schrie er die flatternde
Hose an: „Wer entfiehrt meiDochtcr? - Wer getraut sich, so enLöbwie
mich im Schlaf ze kitzele? — Willstde gleich um Gnad flehe, ergebbstc dich?
— Hastde genuch?' — Und atemlos gab er schließlich der Hose einen Tritt,
schleuderte sie in eine Ecke, stellte stolz den Fuß darauf wie St. Georg auf
den erlegten Drachen und sprach, sich den Schweiß von der Stirne wischend:
„Bitte, der Nächste!'

Der arme Gustav! In einen Taifun widersprechendster Empfindungen

war er geraten, er hätte gleich-
zeitig vorKrastbewußtsein lachen
und vor Jämmerlichkeit heulen
können, das Gebäude seines
Glücks wankte in einem kata-
strophalen Erdbeben, er wußte
selbst nicht mehr: bin ich e Löb
im Schafsfell odder e Schaf im
Löwepelz?

Er hob die Hose vom Boden
auf, bürstete sie sauber, strich jie
fachmännisch glatt und hängte sie
wieder an Ort und Stelle.Dann
schlich er an die Küchentüre und
rief der Marie zu: „Marie, ich
leg mich ins Bett... ich kann
heut nip mehr esse ... mir is net
gut!'

„Mir aach net!" antwortete
schnippisch die gereizte Gattin.
Aber als sie bald darauf aus
dem Schlafzimmer unterdrück-
tes Schluchzen und Ächzen ver-
nahm, legte sie kopfschüttelnd ihre
Arbeit beiseite und sah nach ihrem Mann. Bekümmert setzte sic sich auf den
Bettrand, der sich ob dieser Belastung beträchtlich senkte, und fragte: „Wo
dhut derrs dann weh, Gustav?"

„Iwwerall", kam es wimmernd zurück.

„Soll ich'» Dotier hole?'

„Naa, ich will kaan Kurpfuscher!"

„Willstde 'n Kamlllcthee?'

„Naa, Marie, gar nix will ich! Ich bin ganz gesund, bloß so schleecht
is merrsch!"

„Soll ich derr vielleicht en Umschlag mache?"

Gustav schüttelte stumm den Kopf. Er wollte wirklich nichts, — nein,
doch, eines wollte er: daß seine Marie so neben ihm sitzenbliebe, lange,
immerzu, das ganze Leben hindurch. Und gar nichts brauchte sie zu sagen
als nur jeden zweiten Tag: „Willstde 'n Kamillethee?"

Frau Marie hatte viel in der Küche zu tun, aber sie blieb am Bettrand
sitzen. Ihr war, als hätte ihr Man» ihr noch etwas zu sagen, etwaS, zu dem
man ihm Zeit lassen mußte. Und sie täuschte sich nicht. Nach einer wort-
losen Viertelstunde nahm Gustav ihre linke Hand und flüsterte, die Augen
kindlich-groß auf sie gerichtet: „Marie.... du, Mariechc.... willstde werk-
lich fort?' --

Und da lächelte Fra» Marie erleichtert, denn nun kannte sie plötzlich
die ganze Krankheit ihres ManneS/ tröstend strich sie ihm mit der Rechten
über die Glatze und sprach so sanft, wie sie seit langem nicht mehr zu ihm
gesprochen hatte: „Gustav, waS bistde for e Kamel!"

Sie kehrte ln die Küche zurück, und als sie zwei Stunden später sich zu
Bett legte, traf sie ihren Gustav in tiefem Schlummer an.

(Schlusi folg!)

535
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Bub' muss einmal seine Prügel haben!"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsdatum
um 1924
Entstehungsdatum (normiert)
1919 - 1929
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 161.1924, Nr. 4133, S. 535
 
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