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„DER BUB7 MUSS EINMAL SEINE PRÜGEL HABEN!"

Eine vergnügliche Gerichte von Karl Ettlinger

(Aller menschlichen Voraussicht nach wird »der Bub' Fritz seine
Prügel nie kriegen / denn Schneidermeister Bürstenkorns väter-
liches Herz sträubt sich gegen diese Lynchjustiz. Hingegen ist alles
vorbereitet, den Frauenraub zu vereiteln, den Bürstenkorn von
seiten deS ihm unerwünschten Schwiegersohns Philipp fürchtet.)
(Schluß) Mitten in der Nacht fuhr Gustav empor. Draußen auf dem Flur
batte sich etwas geregt — ganz leise, schlürfende Schritte, wie ein Ver-
schwörerterzett in einer Oper älteren Stils.

Gustav war auf einmal glockenwach. »Also Dorf)!" dachte er. »Hat der
Kerl wahaftich die Frechheit unn kimmt meiLicsche stehle! Ach, liewer Gott,
wen's de strafe willst, dem gebbstde e heiratsfähig Dochter! Es kimmt noch
so weit, daß merr sei Döchter nachts in en Kasscschrank verschließe muß,
odder merr ihr Bett mit Fqngeise unn Selbstschüss' umgewwe! Wanns
dann knallt, waaß merr wenigstens, es is kaa Kuß, sonnern e Schuß! —
Awwer wart nor,Philipp, ich wer' derr'n Strich dorch die Rechnung mache,
cn Strich, der wo derr noch verrzeh Däg als Regeboge uff'm Buckel steht >
Ich wer' dich segne, uff de Kopp
unn uff deHinnern,grad wo der
Sege hictrefft, unn de kannst dich
druff verlasse, es werd e Sege,
der von Herze kimmt!"

Vorsichtig stieg er aus dem
Bett, behutsam, damit Marie
nicht erwachte, und zog den Mc-
terstab, den er in weiser Voraus-
sicht der kommenden Dinge mit
zu Bett genommen hatte, unter
dem Kopfkissen hervor. Er schlug
mit dem Metcrstab im Dunkeln
drei Kreuze durch die Lust und
flüsterte: »Hiermit weih' ich dick,
mei tapfer Schwert! Notung
sollstdc von heut ab haaßc, unn
ich will kaan Stoff mehr mit derr
messe, wannsde heut dei Schul-
digkeit dhust! Sorg derrfor, daß
uff'm Philipp seim Buckel kaa
Gras mehr wächst!"

Er schlich an die Türe, öffnete
sie lautlos und wartete. An
dieser hohlen Gaffe mußte der Philipp vorbei, wenn er in Lieschens Aller-
heiligsleS gelangen wollte, und ingrimmig karrte Gustav des Augenblicks,
da die schlürfenden Schritte dicht bei thm erklingen würden. Es dauerte
eine geraume Weile, denn der Philipp tastete in der Stockfinsternis nur
langsam vorwärts.

»Lass' derr nor Zeit!" knirschte Meister Bürstenkorn. »De krichst dei
Appel noch frich genuch! Scheene, sieße Appel, mei Liewer, lauter pracht-
eremplarn, kaa aanzig fauler drunner! Grad bin ich in der richtig Stim-
mung, — es kribbelt merr schonn in alle Finger — ich bin gelade wie e
Maschinegcwehr unn wart nor uffS Kommando, daß es loSgeht: tack-
tack-tack-

Und schon im selben Moment ging es los, er stürzte sich auf die vorbei-
huschendc Gestalt und schlug auf sie loS, blindlings, wirbelnd, als gelte es,
die Metsterschast im Teppichklopfen zu erringen. Kreuz und quer sausten die
Hiebe, und die wenigsten trafen die Wand.

Ein furchtbares Geschrei quittierte diese Freigebigkeit. Aber Gustav
achtete nicht darauf. Zu viel der Wut war in thm aufgesprtchert, und der
Appetit kommt scheinbar nicht nur beim Essen, sondern auch beim prügeln.
Er verfolgte die fliehende Gestalt den Flur hinauf und hinab, und nun
begleitete er die Schwerthtebe noch mit meckernden Hohnrufen: »Schmeckt

derr deS?_Ei, warum holstde dann VeS Ltesche net? IS derr was der-

zwische komme? ... Kihclstde de Löb immer noch??...'

Bis sich plötzlich Maries Stimme ln den Kriegslärm mljchte: »So is
recht! No endlich, endlich, Gustav!"

Verdutzt hielt Gustav inne. In der Türfüllung stand Marie, eine Athene
lm Nachtgrwand, mit der Pettoleumlampe das Schlachtfeld beleuchtend.

Und dicht vor thm stand der Fritz, laut heulend und sich mit den Hän-
den die verschiedensten Körperteile reibend.

Entgeistert starrte Gustav von der Marie auf das Fritzchen, vom Frttz-
chen auf die Marte. Der Meterstab entglitt ihm, und verlöschenden ToneS
hauchte er: »Ich glaab .... ich glaab, ich habb'n verhaacke!"

»Jawohl," bestätigte Marie, »de hast'n verhaache! Unn hoffentlich net
zem letzte Mal! — Halt, dagebliwwe, Lausbub!! Was hastde nachts
uff'm Korridor ze suche?"

Sie hatte mit sicherem Griff den entwischenden Fritz gepackt. »Willstde
gleich Antwort gewwc? Odder soll ich — "

„Ich wollt doch nor-' schluchzte der Fritz, »ich wollte doch bloß_"

„Eraus mit der Sprach ! I W a s wolltstde?"

»Ich habb doch — ich habb doch for des Geld_c dot Blindschleich

kaast.... unn die wollt ich .... die wollt ich ...."

Er konnte vor Schluchzen nicht wekterredcn.

Gustav faßte sich an den Kopf. O Gott, hatte der Fritz schon wieder eine
Lausbuberei ausgebrütet?

„Werds bald?!" donnerte Marie. „Was wollstde mit Vere Klapper-
schlang?"

und die wollt ich .... die wollt ich ... 'm Lieschc ins Bett lege!"

„O du miseraweler Bub l" schrie Gustav in jäher Empörung. »So aaner

bistde? Dei arm Schwester ze
dot verschrecke?" Wild stürzte er
sich von neuem auf den Fritz, um
die erste bewußte Züchtigung
seines Lebens auszuteklen.

Da aberfühlte er sich an der
Handgepackt.»Genuch,Vatter!"
sprach ruhig eineMännerstimme.
»Genuch, saach' ich! Wann ich
aach bloß e Iuriste-Lehrltng bin,
so viel waaß ich doch: ne bis in
iüem ! Uff deutsch: nie zwaamal
prichel for dieselb Sach I Vatter,
beherrsch dich I"

Es war der Philipp, der also
sprach. Und wir wollen nicht fra-
gen, wie er mitten in der Nach«
auf diesen ereignisreichen Woh-
nungsflur kam. Wir wollen die-
sem Rätsel um so weniger nach-
fvrschen, da die einzige Türe,
durch die er erschienen sei» konnte,
die Pforte zu Lieschens Schlaf-
zimmer war. Nein, wir wollen
lieber an OkkultiSmuS glauben und annehmen, daß eS sich um ein Matertali-
sationsphänomen handelte. Denn wir sind wohlwollende Menschen und
bauen gerne einem Liebespaar goldene Brücken.

Gustav dachte über dieses Rätsel überhaupt nicht nach. In seinem
Innern löste sich plötzlich ein alter Groll — eine tiefe Rührung überkam
inn — und beinahe hätte er mit dem Fritzchen um die Wette geschluchzt. —
Wie war das? Der Philipp nahm seinen Fritz in Schutz? Der Philipp,
über den der Fritz am Mlttagstksch so verächtlich geredet hatte? Der Philipp
beschirmte den Goldjungen vor Schlägen?

Also war doch einer, der nicht in das allgemeine Vernichtungsurteil
über seinen Liebling einstimmte? Einer, der thm nicht in die Ohren gellte
. Der Bub muß sei Schmiss" hawwe", sondern der ihm sogar die Hand
fcfthtclt, wenn er zuhauen wollte?

»Philipp ...," stammelte Meister Bürstcnkorn, »... Philipp, ich glaab,

ich bin heut e bisst uuheefiich gewese,... ich glaab, ich habb_Philipp,

mei Philippche, mei Fraa hat recht: ich b i n e Kamel .... e ahl, meschugge
Kamel...."

Und dann lag er an Philipp- HalS und lachte und weinte durcheinan-
dör: »Philipp, de sollst dein schwarze Aazug hawwe! De scheenste Aazug,
wo ich ln meim ganze Lewe gemach« habb I Aus'm deuerste Stoff... mit

de nowelste Knöpp-Marie, so hol doch'S Llesche unn saach 'rer: »E

Wunner is gescheh': e Kamel is ze Verstand komme!" ...

— So war in ein und derselben Nacht derFrltz zu seinen prügeln, und
daS Lieschen zu ihrem Bräutigam gekommen. Und damit hatte Meister
Bürstcnkorn zwei Taten vollbracht, für die ihm ganz sicher droben in der
himmlischen Buchführuna zwei gewichtige Beträge auf .Haben" gutge-
schrtcben wurden. Obwohl er eigentlich beide Wohltaten nur unbewußt,
ja, wider seine festesten Vorsätze getan hatte.

Aber vielleicht hegehen wir alle gerade unsere besten Taten, ohne es
zu wollen.

- Ende-

551
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Der Bub' muss einmal seine Prügel haben!"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsdatum
um 1924
Entstehungsdatum (normiert)
1919 - 1929
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 161.1924, Nr. 4134, S. 551
 
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