D i e Kiste
Bo» Walter Stölting
Hallend rollte ein Handwagen durch die stillen Stra-
ßen von Romneytown. Die Uhr mochte die zweite Nach-
mittagsftunde zeigen/ deshalb kümmerte sich kein Mensch
darum. Denn in den Sommertagen, wenn die Sonne
brütend heiß in den Straßen brannte und alles Leben
versengte, hielten die braven Bürger von Romneytown
Mittagsschlaf.
Das war jeden Tag so. Was draußen auf dem Lande
zu tun hatte, kam gegen 12 Uhr in die Stadt, und in
der Zeit zwischen 12 und 1 Uhr klappte eine Jalousie
nach der anderen vor den Schaufenstern herunter, schloß
sich eine Ladentür nach der anderen, und auf die Minute
pünktlich kam als Letzter Mac Silvakn - Uhren, Gold-
waren und Juwelen en xro8, en detail, Export - nach-
Vem er das Schaufenstergitter niedergezogen und festge-
schloffen hatte. Wenn seine Schritte in der Miktagsglut
verhallten, wußte jeder Einwohner, daß er nun noch
zwei volle Stunden der wohlverdienten Ruhe pflegen
durste/ denn Mac Silvain war die Uhr von Romney-
town. Und behaglich streckte jedermann seine Glieder,
gähnte noch einmal laut und anspruchsvoll und schloß die
Augen fest zum erquickenden Schlaf, kn dem ihn niemand
und nichts mehr zu stören vermochte. Fuhr wirklich
irgendein Wagen durch die Stadt, dann war man viel
zu müde, hinauszusehen - wenn man ihn überhaupt
hörte.
Auch heute mittag war es gewesen wie jeden Tag.
Mac Silvain hatte noch einmal flüchtig die Uhren,
Goldwaren und Juwelen in der Auslage seines La-
dens übersehen, das Schaufenstergitter herabgezogen
und die Ladentür fest verschlossen. War davonge-
gangen, um in seiner Behausung sich der Ruhe hin-
zugeben. Seine Schritte waren verklungen/ Romney-
town schlief, und die Sonne brütete in der ausgestor-
benen Stadt.
Niemand hörte daher den Handwagen, der holpernd
über das schlechte Pflaster fuhr - niemand sah die drei
Mann, die schwitzend schoben,- denn auf dem Wagen
stand eine große Kiste, anscheinend von beträchtlichem
Gewicht. Vor dem Laden Mac Silvains machten sie
halt und luden keuchend und fluchend die Kiste ab, trugen
sie vor die Ladentür, wo sie sie niedersetzten und klopften.
Und worauf natürlich niemand antwortete.
Nachdem sie eine kleine Weile geschimpft, gepfiffen
und gelärmt hatten, öffnete sich im Nachbarhaus ein
Fenster, aus dem verschlafen eine Frau schaute und fragte,
was sie wollten. Zum Teufel, sie wollten die Kiste hier-
herbringen, und ob hier ein Mister Mac Stlvaln wohnte?
Und sie hätten jetzt schon eine Viertelstunde versucht, ihn
hcrauszuklopfen, aher dieser edle Sir müsse mindestens
Bohnerwachs in seinen lieblichen Andeutungen von
Ohren haben, weil er nicht käme/ und wenn sie noch
lange warten müßten, dann würden sie das Ungetüm
von Kiste wieder nach Bertsvtlle mit zurücknehmcn, weil
sie keine Lust hätten, hier in der Sonnenglut zu sitzen. -
Dann würden sie die Kiste wohl wieder mitnehmen
müssen, meinte die Frau / oder sie könnten ja die Kiste
dalaffen und in einer Stunde wiederkommen, weil Mister
Mac Silvain dann da sein würde. — Das ginge nicht,
die verdammte Kiste dazulaffen, erwiderten die Leute,
weil sie Wertsachen enthielte und bei der Abnahme quit-
tiert werden müsse,- aber sie wollten schon noch eine
kleine Weile aushalten. Dauere es ihnen doch zu lange,
so möge sie Herrn Silvain bestellen, daß sie die Kiste
wieder mitgenommen hätten und anderen Tages Wieder-
käuen,- er solle dann aber über dle Mittagstunde im
Laden bleiben.
Das Fenster schloß sich. Die drei setzten sich auf die
Kiste, brannten ihre pfeifen an, pfiffen den Holivay-
marsch und schlugen mit den Stiefeln den Takt dazu
gegen die Bretter. Eine Zeitlang hallte der Lärm durch
Sie Straße,- dann verloren sie die Lust, noch länger zu
warten, packten fluchend ihre Kiste wieder auf den Karren
und entfernten sich mit dem nötigen Getöse in der Rich-
tung nach Bertsvtlle.
Als um 3 Uhr Herr Mac Silvain wieder vor seinem
Laven stand, wußte er sofort, was los war: denn die
Türfüllung erwies sich als eingedrückt! Er unterdrückte
die leise Anwandlung einer Ohnmacht, schloß den Laden
auf und sah sich vor einem Ladentisch, einem Schau-
fenster, vor Wandschränken, in denen sich auch nicht
das allergeringste bißchen mehr befand. Mister Mac
Silvain — Uhren, Goldwaren und Juwelen en gros,
en detail, Export - war ausgeraubt bis auf den letzten
roten Cent!
Binnen der nächsten drei Minuten erfuhr er die Ge-
schichte von der Kiste und begann hellseherisch den Zu-
sammenhang zu ahnen. Da di» Leute vor einer halben
Stunde etwa weggefahren waren, konnten sie noch nicht
weit fort sein. Mac Silvain sprang in das Auto eines
Freundes und jagte hinterher. Die Radspuren waren
in dem dicken Staub der Landstraße deutlich zu erkennen.
Es war die Richtung nach Bertsville.
Aber Mister Mac Silvain brauchte nicht weit zu
fahren: unfern des Ortes stand der Handwagen —
rechts neben der Straße im Graben — und darauf die
mysteriöse Kiste. Von den Leuten keine Spur.
Auf der Kiste befand sich ein Zettel, auf dem er las:
„Sehr geehrter Herr Mac Silvakn!
Haben Sie besten Dank für die liebenswürdige b'lber-
laffung Ihres Erbteils. Wir hatten dringenden Bedarf
für Gegenstände, wie Sie sie führen,- und da Sie die
Freundlichkeit besaßen, nicht anwesend zu sein, als wir
bei Ihnen kaufen wollten, haben wir die Waren einst-
weilen mitgenommen und gedenken sie nächstens zu be-
zahlen. Sie können uns ja eine Rechnung senden, wenn
Sie wollen.
Die Mitnahme geschah sehr einfach. Während wir
auf der Kiste saßen und den Holidaymarsch pfiffen,
drückte unser Kollege — der vierte Herr, der sich in der
Kiste befand — die Türfüllung ein und entnahm in
aller Gemütsruhe die benötigten Artikel Ihrem Ge-
schäfte. Der Takt, den wir zu dem Marsch mit unseren
Stiefeln schlugen, übertönke die Geräusche vollständig,
so daß uns niemand störte. Wir möchten Ihnen nur für
die Zukunst empfehlen, Ihre Ladentür innen und außen
mit starkem Eisenblech festzumachen, sonst könnte cs
Ihnen am Ende noch passieren, daß Sie bestohlen
würden.
Nehmen Sie also unseren besten Dank und die herz-
lichsten Glückwünsche für Ihr ferneres Wohlergehen.
Ihre sehr ergebenen
297
Bo» Walter Stölting
Hallend rollte ein Handwagen durch die stillen Stra-
ßen von Romneytown. Die Uhr mochte die zweite Nach-
mittagsftunde zeigen/ deshalb kümmerte sich kein Mensch
darum. Denn in den Sommertagen, wenn die Sonne
brütend heiß in den Straßen brannte und alles Leben
versengte, hielten die braven Bürger von Romneytown
Mittagsschlaf.
Das war jeden Tag so. Was draußen auf dem Lande
zu tun hatte, kam gegen 12 Uhr in die Stadt, und in
der Zeit zwischen 12 und 1 Uhr klappte eine Jalousie
nach der anderen vor den Schaufenstern herunter, schloß
sich eine Ladentür nach der anderen, und auf die Minute
pünktlich kam als Letzter Mac Silvakn - Uhren, Gold-
waren und Juwelen en xro8, en detail, Export - nach-
Vem er das Schaufenstergitter niedergezogen und festge-
schloffen hatte. Wenn seine Schritte in der Miktagsglut
verhallten, wußte jeder Einwohner, daß er nun noch
zwei volle Stunden der wohlverdienten Ruhe pflegen
durste/ denn Mac Silvain war die Uhr von Romney-
town. Und behaglich streckte jedermann seine Glieder,
gähnte noch einmal laut und anspruchsvoll und schloß die
Augen fest zum erquickenden Schlaf, kn dem ihn niemand
und nichts mehr zu stören vermochte. Fuhr wirklich
irgendein Wagen durch die Stadt, dann war man viel
zu müde, hinauszusehen - wenn man ihn überhaupt
hörte.
Auch heute mittag war es gewesen wie jeden Tag.
Mac Silvain hatte noch einmal flüchtig die Uhren,
Goldwaren und Juwelen in der Auslage seines La-
dens übersehen, das Schaufenstergitter herabgezogen
und die Ladentür fest verschlossen. War davonge-
gangen, um in seiner Behausung sich der Ruhe hin-
zugeben. Seine Schritte waren verklungen/ Romney-
town schlief, und die Sonne brütete in der ausgestor-
benen Stadt.
Niemand hörte daher den Handwagen, der holpernd
über das schlechte Pflaster fuhr - niemand sah die drei
Mann, die schwitzend schoben,- denn auf dem Wagen
stand eine große Kiste, anscheinend von beträchtlichem
Gewicht. Vor dem Laden Mac Silvains machten sie
halt und luden keuchend und fluchend die Kiste ab, trugen
sie vor die Ladentür, wo sie sie niedersetzten und klopften.
Und worauf natürlich niemand antwortete.
Nachdem sie eine kleine Weile geschimpft, gepfiffen
und gelärmt hatten, öffnete sich im Nachbarhaus ein
Fenster, aus dem verschlafen eine Frau schaute und fragte,
was sie wollten. Zum Teufel, sie wollten die Kiste hier-
herbringen, und ob hier ein Mister Mac Stlvaln wohnte?
Und sie hätten jetzt schon eine Viertelstunde versucht, ihn
hcrauszuklopfen, aher dieser edle Sir müsse mindestens
Bohnerwachs in seinen lieblichen Andeutungen von
Ohren haben, weil er nicht käme/ und wenn sie noch
lange warten müßten, dann würden sie das Ungetüm
von Kiste wieder nach Bertsvtlle mit zurücknehmcn, weil
sie keine Lust hätten, hier in der Sonnenglut zu sitzen. -
Dann würden sie die Kiste wohl wieder mitnehmen
müssen, meinte die Frau / oder sie könnten ja die Kiste
dalaffen und in einer Stunde wiederkommen, weil Mister
Mac Silvain dann da sein würde. — Das ginge nicht,
die verdammte Kiste dazulaffen, erwiderten die Leute,
weil sie Wertsachen enthielte und bei der Abnahme quit-
tiert werden müsse,- aber sie wollten schon noch eine
kleine Weile aushalten. Dauere es ihnen doch zu lange,
so möge sie Herrn Silvain bestellen, daß sie die Kiste
wieder mitgenommen hätten und anderen Tages Wieder-
käuen,- er solle dann aber über dle Mittagstunde im
Laden bleiben.
Das Fenster schloß sich. Die drei setzten sich auf die
Kiste, brannten ihre pfeifen an, pfiffen den Holivay-
marsch und schlugen mit den Stiefeln den Takt dazu
gegen die Bretter. Eine Zeitlang hallte der Lärm durch
Sie Straße,- dann verloren sie die Lust, noch länger zu
warten, packten fluchend ihre Kiste wieder auf den Karren
und entfernten sich mit dem nötigen Getöse in der Rich-
tung nach Bertsvtlle.
Als um 3 Uhr Herr Mac Silvain wieder vor seinem
Laven stand, wußte er sofort, was los war: denn die
Türfüllung erwies sich als eingedrückt! Er unterdrückte
die leise Anwandlung einer Ohnmacht, schloß den Laden
auf und sah sich vor einem Ladentisch, einem Schau-
fenster, vor Wandschränken, in denen sich auch nicht
das allergeringste bißchen mehr befand. Mister Mac
Silvain — Uhren, Goldwaren und Juwelen en gros,
en detail, Export - war ausgeraubt bis auf den letzten
roten Cent!
Binnen der nächsten drei Minuten erfuhr er die Ge-
schichte von der Kiste und begann hellseherisch den Zu-
sammenhang zu ahnen. Da di» Leute vor einer halben
Stunde etwa weggefahren waren, konnten sie noch nicht
weit fort sein. Mac Silvain sprang in das Auto eines
Freundes und jagte hinterher. Die Radspuren waren
in dem dicken Staub der Landstraße deutlich zu erkennen.
Es war die Richtung nach Bertsville.
Aber Mister Mac Silvain brauchte nicht weit zu
fahren: unfern des Ortes stand der Handwagen —
rechts neben der Straße im Graben — und darauf die
mysteriöse Kiste. Von den Leuten keine Spur.
Auf der Kiste befand sich ein Zettel, auf dem er las:
„Sehr geehrter Herr Mac Silvakn!
Haben Sie besten Dank für die liebenswürdige b'lber-
laffung Ihres Erbteils. Wir hatten dringenden Bedarf
für Gegenstände, wie Sie sie führen,- und da Sie die
Freundlichkeit besaßen, nicht anwesend zu sein, als wir
bei Ihnen kaufen wollten, haben wir die Waren einst-
weilen mitgenommen und gedenken sie nächstens zu be-
zahlen. Sie können uns ja eine Rechnung senden, wenn
Sie wollen.
Die Mitnahme geschah sehr einfach. Während wir
auf der Kiste saßen und den Holidaymarsch pfiffen,
drückte unser Kollege — der vierte Herr, der sich in der
Kiste befand — die Türfüllung ein und entnahm in
aller Gemütsruhe die benötigten Artikel Ihrem Ge-
schäfte. Der Takt, den wir zu dem Marsch mit unseren
Stiefeln schlugen, übertönke die Geräusche vollständig,
so daß uns niemand störte. Wir möchten Ihnen nur für
die Zukunst empfehlen, Ihre Ladentür innen und außen
mit starkem Eisenblech festzumachen, sonst könnte cs
Ihnen am Ende noch passieren, daß Sie bestohlen
würden.
Nehmen Sie also unseren besten Dank und die herz-
lichsten Glückwünsche für Ihr ferneres Wohlergehen.
Ihre sehr ergebenen
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