Gott sei Dank war sie ohnehin schon so wütend, daß sie darauf gar
nicht mehr achtete. Verschwenderisch öffnete ich jetzt die Schleusen
meiner Beredsamkeit. Ich mußte irgend etwas erfinden, um meine
Verspätungzu rechtfertigen.
Und ich erfand etwas. Ich erfand einen Autounfall. Mein Auto
war mit einem anderen Auto zusammengestoßen, die Scheiben waren
zersplittert, eine Achse zerbrochen, der Chauffeur batte eine schwere
Bauchquetschung, ein Laternenpfahl hatte sich verbogen wie eine
Haarnadel, aber ich, ja ich hatte mich benommen wie ein Held aus
der Edda- oder der Siegfriedsage oder Tausendundeiner Nacht, ich
hatte nicht mit der Wimper gezuckt, feierlich wie ein Gralsritter war ich
aus dem Trümmerhaufen geschritten und hatte zu dem Chauffeur gesagt:
„Haben Sie irgendwo Beschwerden? Zeigen Sie mal die Zunge!"
Ja, so ein Kerl war ich, und die junge Dame hörte mir andächtig
zu, und ihr Herz klopfte wie eine Kesielsckmiede, und sie war auf
mein Heldentum so stolz, wie
ich aus mein Talent zum Lügen.
Und alles war vergeffen und ver-
geben, und sie hatte nicht bloß
zehn Minuten Zeit, sie hatte den
ganzen Vormittag Zeit, und der
Abend war auch noch frei, denn
die Eltern waren Gott sei Dank
verreist, ja, sie waren zur Hoch-
zeit von Tante Elfriede ge-
fahren — ach,und bei dem Worte
Hochzeit, da machte die junge
Dame einen veilchenblauen
Augenaufschlag, daß mir ganz
anders wurde.
Wir beschloffen, Mittag zu
effen. Wir gingen, wie sich das
für feine Leute gehört, in ein
seines Weinrestaurant. Und als
wir mit dem Fahrstuhl in das
obereStockwerk fuhren,da fühlte
ich einen schmerzhaften Stich in
der Lendengegend. Eigentlich
war es kein Stich, es war ein
Mittelding zwifchenKratzenundStechen,es war sehr unangenehm, es
war direkt belästigend. Man hatte das Gefühl: Gleich kommt's wieder.
Es kam auch gleich wieder. Als wir aus dem Fahrstubl stiegen,
piekte es noch einmal, und bei jedem Schritt piekte es immer wieder.
Vorsichtig scheuerte ich mit dem Ärmel an meiner geplagten Lende.
Aber je mehr ich scheuerte, desto mehr piekte es. Ich machte ein ganz
hohles Kreuz und tat, als ob ich ein Lineal verschluckt hätte, und da
war die Sache weg. Aber ich ging mit der Haltung eines Menschen,
der von einem chronischen Hexenschuß geplagt ist.
Die junge Dame sah mich forschend an. Und da wurde ich wieder sehr
beredt. Ich quatschte mit dem Mut der Verzweiflung auf sie ein, und
dann setzten wir uns zu Tisch. Und schon ging die Bescherung wieder los.
Ichwarsehrunglück-
lich, denn ich wußte gar
nicht, was eigentlich los
war. Ich hatte unklare
Vorstellungen von ei-
nem Holzsplitter, der
sich in mein Hemde ein-
geschlichen hatte, und
mit allen Gründen der
Logik versuchte ich feft-
zustellen, daß und war-
um und auf welchem
Wege ein Holzsplitter
in mein Hemde geraten
sein könnte.
Es war ein sehr schwieriges Problem und erforderte zu seiner
Bewältigung erhebliche Geisteskräfte, so daß ich mich nur wenig meiner
Nachbarin widmen konnte. Sie wunderte sich sichtlich über meine
zerstreuten Antworten und sah mich mißtrauisch an.
„Sie sehen aus wie einer," sagte sie, „der ein schlechtes Gewissen
hat. Was ist Ihnen denn?"
In diesem Augenblick fiel mir ein, daß es vielleicht doch kein Holz-
splitter sein könnte. Es konnte unter Umständen — Herr im Himmel,
hatte ich etwa Ungeziefer?
Ich fühlte, wie mir eine heiße Röte ins Gesicht schlug.
„Sie werden ja puterrot," meinte die junge Dame, „das ist ja
furchtbar komisch heute mit Ihnen. Was haben Sie denn nur?
Haben Sie etwas auf dem Herzen?"
Ja, ich hatte etwas aus dem Herzen. Dieses Wort war die Er-
lösung! Der Anfang war gemacht. Ich brauchte blos fortzufahren.
Und ich fuhr fort und brachte mein Anliegen in gebührender
Weise zum Vortrag. Ich erklärte ihr meinen Herzenskummer, und
da es mich inzwischen immer wieder piekte, stotterte ich, und verlor
den Faden, und das gab meinen Worten den Ausdruck der Ver-
legenheit und Ergriffenheit. Und nichts schmeichelt einer jungen
Dame so sehr, als wenn man bei einer Liebeserklärung ergriffen ist,
und in dem Augenblick, als ich überzeugt war, daß die oberste Haut-
schicht bereits durchstochen war, sagte die junge Dame unter vorschrifts-
mäßigem Erröten „Ja" und sah mich an mit einem Blick, der in meiner
Zwerchfellgegend ausgesprochen wohltuende Empfindung auslöste.
Und fortan sagten wir Du zueinander, und als wir das ein halbes
Dutzend mal getan hatten, dachte ich, daß ich mich jetzt nicht mehr
zu genieren brauchte und griff mit der Hand unter die Weste.
Ich packte es. Ich hatte es in der Hand und ließ nicht los. Ich
griff zu und holte es heraus, mit Gewalt.
Es war ein kleines Pappftückchen mit der Preisauszeichnung für
die Unterhose. Und dieses Pappftückchen war mit einer Drahtklammer
befestigt. Und die Drahtklammer hatte sich aufgebogen und hatte
Holzsplitter und Ungeziefer gespielt.
Freudestrahlend, wie der Jagdhund schwanzwedelnd die Beute
apportiert, legte ich das corpus delicti auf das Tischtuch.
„Was ist denn das?" fragte die junge Dame.
Und im Gefühl der Erlöstheit wurde ich abermals beredt und
erzählte ihr die ganze Geschichte. Die junge Dame sah mich durch-
dringend an.
„Es wird gut sein, wenn wir möglichst bald heiraten", meinte sie.
Ich meinte das auch . . .
Aber jetzt, wenn ich so nachträglich darüber nachdenke, finde ich,
daß der Blick beinahe so spitz war, wie die aufgebogene Draht-
klammer ....
Ich empfehle allen Junggesellen, die ledig bleiben wollen, sich
abzuhärten und auf die Benutzung von Unterhosen zu verzichten.
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nicht mehr achtete. Verschwenderisch öffnete ich jetzt die Schleusen
meiner Beredsamkeit. Ich mußte irgend etwas erfinden, um meine
Verspätungzu rechtfertigen.
Und ich erfand etwas. Ich erfand einen Autounfall. Mein Auto
war mit einem anderen Auto zusammengestoßen, die Scheiben waren
zersplittert, eine Achse zerbrochen, der Chauffeur batte eine schwere
Bauchquetschung, ein Laternenpfahl hatte sich verbogen wie eine
Haarnadel, aber ich, ja ich hatte mich benommen wie ein Held aus
der Edda- oder der Siegfriedsage oder Tausendundeiner Nacht, ich
hatte nicht mit der Wimper gezuckt, feierlich wie ein Gralsritter war ich
aus dem Trümmerhaufen geschritten und hatte zu dem Chauffeur gesagt:
„Haben Sie irgendwo Beschwerden? Zeigen Sie mal die Zunge!"
Ja, so ein Kerl war ich, und die junge Dame hörte mir andächtig
zu, und ihr Herz klopfte wie eine Kesielsckmiede, und sie war auf
mein Heldentum so stolz, wie
ich aus mein Talent zum Lügen.
Und alles war vergeffen und ver-
geben, und sie hatte nicht bloß
zehn Minuten Zeit, sie hatte den
ganzen Vormittag Zeit, und der
Abend war auch noch frei, denn
die Eltern waren Gott sei Dank
verreist, ja, sie waren zur Hoch-
zeit von Tante Elfriede ge-
fahren — ach,und bei dem Worte
Hochzeit, da machte die junge
Dame einen veilchenblauen
Augenaufschlag, daß mir ganz
anders wurde.
Wir beschloffen, Mittag zu
effen. Wir gingen, wie sich das
für feine Leute gehört, in ein
seines Weinrestaurant. Und als
wir mit dem Fahrstuhl in das
obereStockwerk fuhren,da fühlte
ich einen schmerzhaften Stich in
der Lendengegend. Eigentlich
war es kein Stich, es war ein
Mittelding zwifchenKratzenundStechen,es war sehr unangenehm, es
war direkt belästigend. Man hatte das Gefühl: Gleich kommt's wieder.
Es kam auch gleich wieder. Als wir aus dem Fahrstubl stiegen,
piekte es noch einmal, und bei jedem Schritt piekte es immer wieder.
Vorsichtig scheuerte ich mit dem Ärmel an meiner geplagten Lende.
Aber je mehr ich scheuerte, desto mehr piekte es. Ich machte ein ganz
hohles Kreuz und tat, als ob ich ein Lineal verschluckt hätte, und da
war die Sache weg. Aber ich ging mit der Haltung eines Menschen,
der von einem chronischen Hexenschuß geplagt ist.
Die junge Dame sah mich forschend an. Und da wurde ich wieder sehr
beredt. Ich quatschte mit dem Mut der Verzweiflung auf sie ein, und
dann setzten wir uns zu Tisch. Und schon ging die Bescherung wieder los.
Ichwarsehrunglück-
lich, denn ich wußte gar
nicht, was eigentlich los
war. Ich hatte unklare
Vorstellungen von ei-
nem Holzsplitter, der
sich in mein Hemde ein-
geschlichen hatte, und
mit allen Gründen der
Logik versuchte ich feft-
zustellen, daß und war-
um und auf welchem
Wege ein Holzsplitter
in mein Hemde geraten
sein könnte.
Es war ein sehr schwieriges Problem und erforderte zu seiner
Bewältigung erhebliche Geisteskräfte, so daß ich mich nur wenig meiner
Nachbarin widmen konnte. Sie wunderte sich sichtlich über meine
zerstreuten Antworten und sah mich mißtrauisch an.
„Sie sehen aus wie einer," sagte sie, „der ein schlechtes Gewissen
hat. Was ist Ihnen denn?"
In diesem Augenblick fiel mir ein, daß es vielleicht doch kein Holz-
splitter sein könnte. Es konnte unter Umständen — Herr im Himmel,
hatte ich etwa Ungeziefer?
Ich fühlte, wie mir eine heiße Röte ins Gesicht schlug.
„Sie werden ja puterrot," meinte die junge Dame, „das ist ja
furchtbar komisch heute mit Ihnen. Was haben Sie denn nur?
Haben Sie etwas auf dem Herzen?"
Ja, ich hatte etwas aus dem Herzen. Dieses Wort war die Er-
lösung! Der Anfang war gemacht. Ich brauchte blos fortzufahren.
Und ich fuhr fort und brachte mein Anliegen in gebührender
Weise zum Vortrag. Ich erklärte ihr meinen Herzenskummer, und
da es mich inzwischen immer wieder piekte, stotterte ich, und verlor
den Faden, und das gab meinen Worten den Ausdruck der Ver-
legenheit und Ergriffenheit. Und nichts schmeichelt einer jungen
Dame so sehr, als wenn man bei einer Liebeserklärung ergriffen ist,
und in dem Augenblick, als ich überzeugt war, daß die oberste Haut-
schicht bereits durchstochen war, sagte die junge Dame unter vorschrifts-
mäßigem Erröten „Ja" und sah mich an mit einem Blick, der in meiner
Zwerchfellgegend ausgesprochen wohltuende Empfindung auslöste.
Und fortan sagten wir Du zueinander, und als wir das ein halbes
Dutzend mal getan hatten, dachte ich, daß ich mich jetzt nicht mehr
zu genieren brauchte und griff mit der Hand unter die Weste.
Ich packte es. Ich hatte es in der Hand und ließ nicht los. Ich
griff zu und holte es heraus, mit Gewalt.
Es war ein kleines Pappftückchen mit der Preisauszeichnung für
die Unterhose. Und dieses Pappftückchen war mit einer Drahtklammer
befestigt. Und die Drahtklammer hatte sich aufgebogen und hatte
Holzsplitter und Ungeziefer gespielt.
Freudestrahlend, wie der Jagdhund schwanzwedelnd die Beute
apportiert, legte ich das corpus delicti auf das Tischtuch.
„Was ist denn das?" fragte die junge Dame.
Und im Gefühl der Erlöstheit wurde ich abermals beredt und
erzählte ihr die ganze Geschichte. Die junge Dame sah mich durch-
dringend an.
„Es wird gut sein, wenn wir möglichst bald heiraten", meinte sie.
Ich meinte das auch . . .
Aber jetzt, wenn ich so nachträglich darüber nachdenke, finde ich,
daß der Blick beinahe so spitz war, wie die aufgebogene Draht-
klammer ....
Ich empfehle allen Junggesellen, die ledig bleiben wollen, sich
abzuhärten und auf die Benutzung von Unterhosen zu verzichten.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der Preiszettel"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1926
Entstehungsdatum (normiert)
1921 - 1931
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 165.1926, Nr. 4226, S. 59
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg