Stille Vögel flattern schreiend.
Deren Traum kein Lied zerbrach.
Täppisch um die Stille freiend
Bricht der Lärm in ihren Hag.
Untergang und Weltgewissen.
Lust und Grausen, Mord und Licht,
Nackte Frauen, goldne Ritter,
Eines Gottes Angesicht!
Wirrer Klänge Dissonanzen
Tönen über mich dahin.
Meinen Leib zerfleischen Lanzen,
Rausch umschleiert meinen Sinn.
Tiger treten mich zur Erde,
Faune lachen meiner Not.
Doch mit lächelnder Gebärde
Wehrt der trunkne Gott dem Tod.
Edmund S di o p e n
Weiter schwankt die breiten Spuren
Bakchos auf dem Krönungszug.
Tote und entweihte Fluren
Ächzen ihren Daseinsfluch.
Träume suchte ich im Haine,
Grünumwobnen Nixenteich.
Trüb die Flut, die silberreine,
Und zerstört sein Märchenreich.
Neffe Philipp hat den Doktor gemacht...
Onkel Emil ist ein sparsamer Mann. Er ehrt den Pfennig, lehnt
alles, was teuer ist, grundsätzlich ab, und auch für seinen Rheumatis-
mus benutzt er keinen Arzt, sondern ein selbfterlegteS Katzenfell. In einer
kleinen Stadt wohnt er, ferne der großen Welt, und sein Dasein ist,
umgeben von dem seiner Ehegattin und zweier längst herangewachsener
Sprößlinge, beschaulich, billig und durch den Besitz zweier Rentehäuser
einigermaßen gesichert.
Onkel Emil ist aber trotz seiner Sparsamkeit ein guter Mensch, ja
sogar die Seele eines Menschen, vorausgesetzt natürlich, daß es sich ohne
erhebliche Barauslagen machen läßt. Nie kommt er mit leeren Händen,
wenn er den Bekannten einen Besuch abstattet: Bald istö die Bilder-
beilage einer Zeitung, die er als Gabe bereit hat, bald dies oder jenes
Stück aus der Tüte angefaulten Obstes, die er zu erheblich herabge-
setztem Preise erstanden. Und für ganz besondere Fälle hat er eine
Schachtel Bonbons bereit, ja, aber ein wenig „angezogene" Ware.
Besuche schätzt Onkel Emil nicht, zumal nicht solche zu Mahlzeiten.
Alles andere empfängt er lieber als diese. Drum ist er auch froh, daß
all seine Verwandten recht weit weg wohnen. Trude z. B., seine Schwester
müßte 13 Stunden im Schnellzug fahren, um ein Attentat auf seinen
Sonntagsbraten zu ermöglichen.
Trudchen tut das nicht. Sie benützt die Eisenbahn auch zur Brief-
beförderung nur selten. „Ein gutes Kind ist Trudchen" sagt Onkel Emil.
Hat das „gute Kind" bereits einen erwachsenen Sohn. Tja, die Zeit
vergeht; auch für jüngere Geschwister.
Und plötzlich wird das Unwahrscheinliche Ereignis: Ein Brief kommt
aus Trudchens Stadt, ein kurzer, aber inhaltsschwerer Brief: „Dein
Neffe Philipp hat den Doktor gemacht" steht dort zu lesen. Und noch
dies: „Er reist morgen nach der Schweiz, und da er in Eurer Stadt
umsteigen muß, wird er sich die Gelegenheit nicht nehmen lasten, einen
Tag bei Euch zu weilen."
„Weilen wird er?" denkt Onkel Emil. „Also wahrscheinlich über das
Mittagsbrot wird er weilen?" Was ihn dieser Neffe Philipp eigentlich
anging. Vierundzwanzig Jahre hat er es ohne die verwandtschaftliche
Bekanntschaftausgehalten, und jetzt, gerade morgen, wo es einen Sonn-
tagö-SchweinSbraten geben soll, kann er die Liebe nicht länger be-
zähmen? Schweinsbraten für Gäste? Oh, die Welt ist gefährlich. Zu-
mal, wenn sie ißt. Schweinsbraten, Sauerkraut, Apfelstrudel . . . und
hinterher auch noch eine Zigarre? Und ohne daß Trudchen Gelegenheit
haben wird, sich dafür erkenntlich zu zeigen . . . ? Onkel Emil mußte
das Käppchen von der Glatze heben. Er transpirierte vor Erregung.
Sollte er verreisen? Aber, nein! Dann stoh er selber
vor dem Schweinsbraten! Sich verleugnen lasten?
Wer könnte das in einer Stadt mit so beschränkter
Seelen-Zahl; wo doch jede Seele ihn kannte, den
Onkel Emil . . .
Emil las den Brief nochmals. „Neffe Philipp
hat den Doktor gemacht" . . . Hm . . hm . . den
Doktor hat er gemacht? Ein Arzt ist der Kerl ge-
worden? Und gerade jetzt, wo der Rheumatismus
den guten Onkel so kreuzjämmerlich plagt? Hm . .
Eigentlich käme der neugebackene Doktor zur rechten
Zeit. Zumal Tante Vroni furchtbar unter Verdau-
ungsstörungen leidet.
„Neffe Philipp hat feinen Doktor gemacht und'
besucht uns übermorgen" erzählt der Onkel beim
Vespertisch. Staunend hören es die Nachbarn, und
sie verspüren gleich irgendwo ein paar nahrhafte
Stiche.
„Emil Knappgebers Neffe hat den Doktor ge-
macht" erzählen sie auf dem Markte.
„Was Sie nicht sagen? Einen Doktor haben
Knappgebers zum Neffen? Und morgen kommt er
auf Besuch, der Herr Doktor? Ei, ei!"
Und er ist wirklich gekommen, der Neffe Philipp.
Und er hat ein« schwarze Hornbrille getragen und
sehr gebildet ausgeseben.
„Das ist mein Neffe, der Herr Doktor" stellt
Onkel Emil vor. Inspektor Miering nebst Gattin,
die zufällig da sind, sagen „Diener.. Diener, Herr
Doktor," und ihre Rümpfe beugen sich einer Gratis-
Konsultation devotest entgegen.
„Ein Doktor .. oh, wie glöcklich müffen Sie sein."
Philipp ist pflichtschuldigst „glöcklich." Und gesteht
Mißverständnis. „Wie ich aus Ihren Andeutungen entnehme, halten Sie um die
Hand meiner Tochter an." - „Nein, schon ums ganze Fräulein!"
dann, wie ihn alles freue. Vor allem der Aufenthalt
hier. Und daß er nur bedauere, heute abend schon
weiterfahren zu müffen . . "
296
Deren Traum kein Lied zerbrach.
Täppisch um die Stille freiend
Bricht der Lärm in ihren Hag.
Untergang und Weltgewissen.
Lust und Grausen, Mord und Licht,
Nackte Frauen, goldne Ritter,
Eines Gottes Angesicht!
Wirrer Klänge Dissonanzen
Tönen über mich dahin.
Meinen Leib zerfleischen Lanzen,
Rausch umschleiert meinen Sinn.
Tiger treten mich zur Erde,
Faune lachen meiner Not.
Doch mit lächelnder Gebärde
Wehrt der trunkne Gott dem Tod.
Edmund S di o p e n
Weiter schwankt die breiten Spuren
Bakchos auf dem Krönungszug.
Tote und entweihte Fluren
Ächzen ihren Daseinsfluch.
Träume suchte ich im Haine,
Grünumwobnen Nixenteich.
Trüb die Flut, die silberreine,
Und zerstört sein Märchenreich.
Neffe Philipp hat den Doktor gemacht...
Onkel Emil ist ein sparsamer Mann. Er ehrt den Pfennig, lehnt
alles, was teuer ist, grundsätzlich ab, und auch für seinen Rheumatis-
mus benutzt er keinen Arzt, sondern ein selbfterlegteS Katzenfell. In einer
kleinen Stadt wohnt er, ferne der großen Welt, und sein Dasein ist,
umgeben von dem seiner Ehegattin und zweier längst herangewachsener
Sprößlinge, beschaulich, billig und durch den Besitz zweier Rentehäuser
einigermaßen gesichert.
Onkel Emil ist aber trotz seiner Sparsamkeit ein guter Mensch, ja
sogar die Seele eines Menschen, vorausgesetzt natürlich, daß es sich ohne
erhebliche Barauslagen machen läßt. Nie kommt er mit leeren Händen,
wenn er den Bekannten einen Besuch abstattet: Bald istö die Bilder-
beilage einer Zeitung, die er als Gabe bereit hat, bald dies oder jenes
Stück aus der Tüte angefaulten Obstes, die er zu erheblich herabge-
setztem Preise erstanden. Und für ganz besondere Fälle hat er eine
Schachtel Bonbons bereit, ja, aber ein wenig „angezogene" Ware.
Besuche schätzt Onkel Emil nicht, zumal nicht solche zu Mahlzeiten.
Alles andere empfängt er lieber als diese. Drum ist er auch froh, daß
all seine Verwandten recht weit weg wohnen. Trude z. B., seine Schwester
müßte 13 Stunden im Schnellzug fahren, um ein Attentat auf seinen
Sonntagsbraten zu ermöglichen.
Trudchen tut das nicht. Sie benützt die Eisenbahn auch zur Brief-
beförderung nur selten. „Ein gutes Kind ist Trudchen" sagt Onkel Emil.
Hat das „gute Kind" bereits einen erwachsenen Sohn. Tja, die Zeit
vergeht; auch für jüngere Geschwister.
Und plötzlich wird das Unwahrscheinliche Ereignis: Ein Brief kommt
aus Trudchens Stadt, ein kurzer, aber inhaltsschwerer Brief: „Dein
Neffe Philipp hat den Doktor gemacht" steht dort zu lesen. Und noch
dies: „Er reist morgen nach der Schweiz, und da er in Eurer Stadt
umsteigen muß, wird er sich die Gelegenheit nicht nehmen lasten, einen
Tag bei Euch zu weilen."
„Weilen wird er?" denkt Onkel Emil. „Also wahrscheinlich über das
Mittagsbrot wird er weilen?" Was ihn dieser Neffe Philipp eigentlich
anging. Vierundzwanzig Jahre hat er es ohne die verwandtschaftliche
Bekanntschaftausgehalten, und jetzt, gerade morgen, wo es einen Sonn-
tagö-SchweinSbraten geben soll, kann er die Liebe nicht länger be-
zähmen? Schweinsbraten für Gäste? Oh, die Welt ist gefährlich. Zu-
mal, wenn sie ißt. Schweinsbraten, Sauerkraut, Apfelstrudel . . . und
hinterher auch noch eine Zigarre? Und ohne daß Trudchen Gelegenheit
haben wird, sich dafür erkenntlich zu zeigen . . . ? Onkel Emil mußte
das Käppchen von der Glatze heben. Er transpirierte vor Erregung.
Sollte er verreisen? Aber, nein! Dann stoh er selber
vor dem Schweinsbraten! Sich verleugnen lasten?
Wer könnte das in einer Stadt mit so beschränkter
Seelen-Zahl; wo doch jede Seele ihn kannte, den
Onkel Emil . . .
Emil las den Brief nochmals. „Neffe Philipp
hat den Doktor gemacht" . . . Hm . . hm . . den
Doktor hat er gemacht? Ein Arzt ist der Kerl ge-
worden? Und gerade jetzt, wo der Rheumatismus
den guten Onkel so kreuzjämmerlich plagt? Hm . .
Eigentlich käme der neugebackene Doktor zur rechten
Zeit. Zumal Tante Vroni furchtbar unter Verdau-
ungsstörungen leidet.
„Neffe Philipp hat feinen Doktor gemacht und'
besucht uns übermorgen" erzählt der Onkel beim
Vespertisch. Staunend hören es die Nachbarn, und
sie verspüren gleich irgendwo ein paar nahrhafte
Stiche.
„Emil Knappgebers Neffe hat den Doktor ge-
macht" erzählen sie auf dem Markte.
„Was Sie nicht sagen? Einen Doktor haben
Knappgebers zum Neffen? Und morgen kommt er
auf Besuch, der Herr Doktor? Ei, ei!"
Und er ist wirklich gekommen, der Neffe Philipp.
Und er hat ein« schwarze Hornbrille getragen und
sehr gebildet ausgeseben.
„Das ist mein Neffe, der Herr Doktor" stellt
Onkel Emil vor. Inspektor Miering nebst Gattin,
die zufällig da sind, sagen „Diener.. Diener, Herr
Doktor," und ihre Rümpfe beugen sich einer Gratis-
Konsultation devotest entgegen.
„Ein Doktor .. oh, wie glöcklich müffen Sie sein."
Philipp ist pflichtschuldigst „glöcklich." Und gesteht
Mißverständnis. „Wie ich aus Ihren Andeutungen entnehme, halten Sie um die
Hand meiner Tochter an." - „Nein, schon ums ganze Fräulein!"
dann, wie ihn alles freue. Vor allem der Aufenthalt
hier. Und daß er nur bedauere, heute abend schon
weiterfahren zu müffen . . "
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Mißverstanden"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1926
Entstehungsdatum (normiert)
1921 - 1931
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 165.1926, Nr. 4246, S. 296
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg