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Das tote

Ganz draußen am Rande der Welt stand ein Baum, der hatte
den Namen ,Die Stilles Unter dem Baum saß ein armes, alte«
Weibchen und strickte immerfort an großen, grauen Strümpfen.
Es war ein ganz gewöhnliches altes Weibchen und es gab schon
lange niemand mehr, der ee kannte — ja, eigentlich gab eö gar
niemand, für den es die vielen Strümpfe stricken konnte. Aber
wahrscheinlich dachte cs darüber selbst nicht mehr nach und es
wunderte sich auch niemand darüber. Die Leute gingen ganz
achtungslos an dem Baum vorüber und dachten höchstens: das
ist ein altes Weibchen, das Strümpfe strickt.

Aber doch war ein kleines Schicksal um das alte Mütterchen
herum, denn es war einmal, vor vielen Jahren, eine wirkliche
Mutter gewesen und hatte so heilig wie die Gottesmutter selbst
auf ihr kleines Bübchen herabgelächclt. Das aber war noch ganz
klein gewesen, als es in einem matten, halbhellen Wintermorgen
ganz plötzlich gestorben war, so wie ein kleines, ängstliches Wachs-
lichtchen in einem kalten, feindlichen Luftzug verlischt. Der Ge-
danke an daö tote Kindchen aber glomm in der Alten fort wie
ein Funken rote Glut in einem zerfallenen Aschenrest.

Jahr um Jahr saß sie da in ihrer Arbeit und in ihrer Armut,
aber sie wußte schon lange nicht mehr, daß sie daö tat, nur an ihr
Kindchen dachte sie Sommers und Winters. Wuchs im Früh-
ling der Morgen über die Erde herauf wie ein steigendes Meer,
dann meinte sie die blaue Helle seiner Augen zu sehen. Wenn die
Sternennächte des Sommers sprühend niederfloffen, fühlte sie
die Wärme seiner singenden Stimme. Streifte der Herbstwind
die grauen Wiesen, dann spürte sie die weiche Nähe seiner
Schritte. Im Schneeglanz des Winters aber sah sie den silbernen

Kindchen

Schimmer, der seine kleine, durchsichtig« Gestalt umkleidete. Dann
machte sic sich manchmal in hellen Nächten auf, ihr Kind zu suchen.
Sie wanderte über die Berge, sie schritt die Ufer endloser Flüsie
ab ohne es zu wisien, ohne Denken, ohne Zielen, in einem ruhe-
losen Bann. Cs war ja nicht mehr sie selbst, es war der Ruf
ihrer gepeinigten und verwaisten Mutterseele, der, längst sinnlos
geworden, doch immer noch lebendig wie ein Fluch, dumpf und
rastlos in ihr wanderte, es war die Unruhe ihrer Mutternot, die
in ihrer verewigten Beständigkeit nun längst eine Art von Ruhe
geworden war, - es war vielleicht auch nur ihr Traum, ihr ur-
alter, ewiggleicher Traum, der suchend und wandernd, einen
Namen rufend über die Berge irrte.

Doch einmal, in einer einzigartigen, silbrigen Nacht, entfachte»
sich hell die weißen Feuer aller Sterne gleich heiligen Flammen,
und Engelknaben wie lichte, tröstende Gedanken kamen auf dem
leuchtenden Weg ihres eigenen Lichts zu der verarmten und ver-
einsamten, unruhvoll gequälten Menschenseele der Alten herab-
gestiegen. Sie löschten den dunklen Schatten ihres Traumes, sie
lösten sie selbst wie einen Schatten von der Erde ab und faßten
sie an ihren Händen. Und sie führten sie die Weg« zu der Seele
ihres Kindes, die ein strahlender Lichtknabe geworden war wie
sie selbst. r°n«ri«

Der Protz!

„Einen Wald haben Sie gekauft! Sie wollen wohl zur Jagd
gehn?" — „Nein. Aber da kann ich doch bester einen Weih-
nachtsbaum aussuchen."

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Das tote Kindchen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsdatum
um 1926
Entstehungsdatum (normiert)
1921 - 1931
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 165.1926, Nr. 4247, S. 304

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CC0 1.0 Public Domain Dedication
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