Nette Leute
Groteske von Balduin R e i ch e n w a l l n e r
„Es gibt so wenig nette Leute aus der Welt" klagte der Pessimist
und schloß sich, den Havannaftummel zu Ende lutschend, in sein
Zimmer ein.
„O nein, es giebt der netten Leute viel," juchheite der Sangu-
iniker, das Himmelskind, „man kennt sie nur nicht alle."
„Drum muß man sie organisieren und sie kenntlich machen" resü-
mierte Paul Wippke, der Praktiker. „Alle Menschen, die gern mit-
einander reden möchten, ohne daß eine Mittelsperson die altertüm-
liche Zeremonie des Vorstellens vornimmt; die sich in kleinen Anliegen
um Rat und Hilfe an gütige Mitmenschen wenden möchten; die in
fremden Städten Anschluß suchen; die es drängt, der lieben Mitwelt
Gefälligkeiten zu erwei-
sen — man braucht sie nur
zu kennen und die Adreffe
zu wiffen, wohin man sich
zu wenden Kat, und unser
hartes, egoistisches Zeit-
alter wird wieder sreund-
lich und golden. Die
FremdheitvonMensch zu
Mensch wird überwun-
den und echter Herzlich-
keit Platz machen. Es gibt
Branchenadreßbücher,
darin man alle Händler
mit Friseurbedarssarti-
keln, alle Briefmarken-
sammler und Mause-
fallensabrikanten findet.
Warum soll man nicht
einen Katalog der netten
Menschen herausgeben?
Es kostet nur ein In-
serat."
Diese Gedanken leite-
ten PaulWippke, meinen
Freund, als er denVerein
der „Netten Leute" ins
Leben rief, besten begei-
stertes Mitglied ich wur-
de. Wir mußten einen
Fragebogen ausfülle»
und bekamen ein email-
liertes Vergißmeinnicht
aus Weißblech, imKnopf-
loch zu tragen, (für Da-
men als Busennadel), dazu die Statuten undein Verzeichnis aller Mit-
glieder im Reiche. Dafür zahlten wir 3 Mk. Weitere Verpflichtungen
batten wir nicht. Frei und leicht fühlte ich mich, wie im Frühling,
wenn man sieht, wie das Eis in den Bergen schmilzt. Ich war ein
organisierter „Netter Mensch." Im April dieses Jahres ginge los.
Ich saß nichts ahnend in den Anlagen, als ein Herr mit karrierten
Hosen und einem Handkoffer auf mich zukam und mich wie einen
alten Bekannten begrüßte: „Sind ja auch ein netter Mensch, wie
ich sehe. Wollen Sie mich ein wenig in der Stadt herumsühren?
Bin leider gänzlich fremd hier." — „Gern," sagte ich und führte
ihn zum Rathaus, zum Iustizpalast, zum Finanzamt und zum Dempsey-
Denkmal. Aus Nettigkeit trug ich sogar seinen Handkoffer bis zum
nächsten Bierkeller. Offengestanden, der Mensch war gar nicht nett,
er war ein Ekel an Aufdringlichkeit und Geschwätzigkeit, aber wir
waren Bundesbrüder, und ich hatte die Pflicht, seine kleinen Schwächen
hinzunehmen. Nach der achten Maß sang er die „Loreley," und da
er zufällig nur österreichisches Geld bei sich hatte, zahlte ich für uns
beide und führte ihn, der äußerst lustig war nnd alle netten Mädels
„Miezemausi" anredete, auf Zickzackpfaden in fein Hotel.
Als ich nachhause kam, warteten dort schon drei ältere Damen auf
mich. Sie gehörten gleichfalls zum Verein und suchten männliche
Begleitung. Sie seien Schwestern und sehr einsam und sprachen
daher alle gleichzeitig. Ich wußte nicht was sie wollten und unterhielt
mich vier Stunden mit ihnen, bis es dunkel wurde. Da gingen sie
„etwaigen Geredes we-
gen", init dem herzlichen
Wunsche auf baldiges
Wiedersehen.
Am nächsten Morgen
kam ein „netter" Musik-
schüler und bat mich, drei
Stunden täglich mein
Klavier benutzen zu dür-
fen, was ich natürlich ge-
stattete. Nachher pumpte
er mich an, da er leider
gerade mittellos sei. Ich
stob in ei» Cafe. Drei
dicke Herren mit unserem
Abzeichen am Rock wink-
ten mir brüllend zu. Es
fehlte ihnen der vierte
Mann zum Skat. Ich
liebe Kartenspiele nicht,
kann auch nicht ordentlich
Skat spielen, aber ich
machte mit und verlor
5.60 Mk.
Zuhause saßen die
drei Damen wieder und
lauschten dem Spiel des
Musikers. Sie umjubel-
tenmich. „IedenTagnur
ein paar Stündchen bei
Ihnen zu sitzen, es ist zu
nett." Ich heuchelte aus
Leibeskräften Nettigkeit.
Gegen Abend kam eine
dicke Frau mit einem
Baby. Sie habe meine Adreffe im Verzeichnis gelesen. Wie schön
sei eö doch, nette Menschen zu wiffen. Und ob ich nicht das Kind für
eine Viertelstunde bei mir behalten wolle? Sie müffe schnell einmal
hinüber aufs Wohlfahrtsamt. Ich behielt das Kind. Die Frau kam
nicht wieder^ Ich mußte es adoptieren. Am dritten Tage griff ich zur
Selbstverteidigung. Den Musikschüler bat ich, er möge mir zehn
Klafter Hol; im Keller kleinmachen. Er war beleidigt und ging.
Den drei Damen erklärte ich, ich litte an Cholera, sie möchten mich
pflegen. Sie flohen mit wildem Gekreisch die Treppe hinunter. An
meine Tür heftete >ch ein Schild: „Vorsicht, bissiger Hund" und dem
Verein der „Netten Leute" erklärte ich meinen Austritt. Ich war
drei Tage Mitglied. Vielleicht lag 's an mir. Ich bin wohl ein eigen-
artiger Mensch, aber gewiß kein netter.
Reinfall. Der bekannte Meisterboxer T., der in München ein Gastspiel gibt, nimmt sich
an seiner Straßenbahnhaltestelle immer etwas Lektüre mit. Dabei verfehlt er nie, der
Zeitungsfrau ein paar Frozzeleien zuzuwerfen. Eines Tages sagt er zu ihr: ,,'n Tag.
jute Frau! Ra, Sie vertreten ja mit Ihrer Lotteriekollekte det jeistige Deutschland -
jeben Se mir mal ’rt paar von Ihre Nieten!"
„Bitt' schen, Herr: in derer Rümmer san Sie photographiert drin," war die Antwort.
222
Groteske von Balduin R e i ch e n w a l l n e r
„Es gibt so wenig nette Leute aus der Welt" klagte der Pessimist
und schloß sich, den Havannaftummel zu Ende lutschend, in sein
Zimmer ein.
„O nein, es giebt der netten Leute viel," juchheite der Sangu-
iniker, das Himmelskind, „man kennt sie nur nicht alle."
„Drum muß man sie organisieren und sie kenntlich machen" resü-
mierte Paul Wippke, der Praktiker. „Alle Menschen, die gern mit-
einander reden möchten, ohne daß eine Mittelsperson die altertüm-
liche Zeremonie des Vorstellens vornimmt; die sich in kleinen Anliegen
um Rat und Hilfe an gütige Mitmenschen wenden möchten; die in
fremden Städten Anschluß suchen; die es drängt, der lieben Mitwelt
Gefälligkeiten zu erwei-
sen — man braucht sie nur
zu kennen und die Adreffe
zu wiffen, wohin man sich
zu wenden Kat, und unser
hartes, egoistisches Zeit-
alter wird wieder sreund-
lich und golden. Die
FremdheitvonMensch zu
Mensch wird überwun-
den und echter Herzlich-
keit Platz machen. Es gibt
Branchenadreßbücher,
darin man alle Händler
mit Friseurbedarssarti-
keln, alle Briefmarken-
sammler und Mause-
fallensabrikanten findet.
Warum soll man nicht
einen Katalog der netten
Menschen herausgeben?
Es kostet nur ein In-
serat."
Diese Gedanken leite-
ten PaulWippke, meinen
Freund, als er denVerein
der „Netten Leute" ins
Leben rief, besten begei-
stertes Mitglied ich wur-
de. Wir mußten einen
Fragebogen ausfülle»
und bekamen ein email-
liertes Vergißmeinnicht
aus Weißblech, imKnopf-
loch zu tragen, (für Da-
men als Busennadel), dazu die Statuten undein Verzeichnis aller Mit-
glieder im Reiche. Dafür zahlten wir 3 Mk. Weitere Verpflichtungen
batten wir nicht. Frei und leicht fühlte ich mich, wie im Frühling,
wenn man sieht, wie das Eis in den Bergen schmilzt. Ich war ein
organisierter „Netter Mensch." Im April dieses Jahres ginge los.
Ich saß nichts ahnend in den Anlagen, als ein Herr mit karrierten
Hosen und einem Handkoffer auf mich zukam und mich wie einen
alten Bekannten begrüßte: „Sind ja auch ein netter Mensch, wie
ich sehe. Wollen Sie mich ein wenig in der Stadt herumsühren?
Bin leider gänzlich fremd hier." — „Gern," sagte ich und führte
ihn zum Rathaus, zum Iustizpalast, zum Finanzamt und zum Dempsey-
Denkmal. Aus Nettigkeit trug ich sogar seinen Handkoffer bis zum
nächsten Bierkeller. Offengestanden, der Mensch war gar nicht nett,
er war ein Ekel an Aufdringlichkeit und Geschwätzigkeit, aber wir
waren Bundesbrüder, und ich hatte die Pflicht, seine kleinen Schwächen
hinzunehmen. Nach der achten Maß sang er die „Loreley," und da
er zufällig nur österreichisches Geld bei sich hatte, zahlte ich für uns
beide und führte ihn, der äußerst lustig war nnd alle netten Mädels
„Miezemausi" anredete, auf Zickzackpfaden in fein Hotel.
Als ich nachhause kam, warteten dort schon drei ältere Damen auf
mich. Sie gehörten gleichfalls zum Verein und suchten männliche
Begleitung. Sie seien Schwestern und sehr einsam und sprachen
daher alle gleichzeitig. Ich wußte nicht was sie wollten und unterhielt
mich vier Stunden mit ihnen, bis es dunkel wurde. Da gingen sie
„etwaigen Geredes we-
gen", init dem herzlichen
Wunsche auf baldiges
Wiedersehen.
Am nächsten Morgen
kam ein „netter" Musik-
schüler und bat mich, drei
Stunden täglich mein
Klavier benutzen zu dür-
fen, was ich natürlich ge-
stattete. Nachher pumpte
er mich an, da er leider
gerade mittellos sei. Ich
stob in ei» Cafe. Drei
dicke Herren mit unserem
Abzeichen am Rock wink-
ten mir brüllend zu. Es
fehlte ihnen der vierte
Mann zum Skat. Ich
liebe Kartenspiele nicht,
kann auch nicht ordentlich
Skat spielen, aber ich
machte mit und verlor
5.60 Mk.
Zuhause saßen die
drei Damen wieder und
lauschten dem Spiel des
Musikers. Sie umjubel-
tenmich. „IedenTagnur
ein paar Stündchen bei
Ihnen zu sitzen, es ist zu
nett." Ich heuchelte aus
Leibeskräften Nettigkeit.
Gegen Abend kam eine
dicke Frau mit einem
Baby. Sie habe meine Adreffe im Verzeichnis gelesen. Wie schön
sei eö doch, nette Menschen zu wiffen. Und ob ich nicht das Kind für
eine Viertelstunde bei mir behalten wolle? Sie müffe schnell einmal
hinüber aufs Wohlfahrtsamt. Ich behielt das Kind. Die Frau kam
nicht wieder^ Ich mußte es adoptieren. Am dritten Tage griff ich zur
Selbstverteidigung. Den Musikschüler bat ich, er möge mir zehn
Klafter Hol; im Keller kleinmachen. Er war beleidigt und ging.
Den drei Damen erklärte ich, ich litte an Cholera, sie möchten mich
pflegen. Sie flohen mit wildem Gekreisch die Treppe hinunter. An
meine Tür heftete >ch ein Schild: „Vorsicht, bissiger Hund" und dem
Verein der „Netten Leute" erklärte ich meinen Austritt. Ich war
drei Tage Mitglied. Vielleicht lag 's an mir. Ich bin wohl ein eigen-
artiger Mensch, aber gewiß kein netter.
Reinfall. Der bekannte Meisterboxer T., der in München ein Gastspiel gibt, nimmt sich
an seiner Straßenbahnhaltestelle immer etwas Lektüre mit. Dabei verfehlt er nie, der
Zeitungsfrau ein paar Frozzeleien zuzuwerfen. Eines Tages sagt er zu ihr: ,,'n Tag.
jute Frau! Ra, Sie vertreten ja mit Ihrer Lotteriekollekte det jeistige Deutschland -
jeben Se mir mal ’rt paar von Ihre Nieten!"
„Bitt' schen, Herr: in derer Rümmer san Sie photographiert drin," war die Antwort.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Reinfall"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1927
Entstehungsdatum (normiert)
1922 - 1932
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 167.1927, Nr. 4292, S. 222
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg