Wenn der Schlupferl bellt
Ein Ausschnitt au« einer Großstadt von E. Laren
Jeden Morgen, Punkt 6 Uhr 14 Minuten, dreht sich die Haustür
am Schillerplatz Nummer 9 mit verschlafenem Geraunz in den Angeln.
Aus dem Türspalt schießt ein schokoladbrauner, zottiger Knäuel mit
schmetterndem Gebell und flatternden Dackelohren auf die Straße.
Stattet dem nächsten Laternenpsahl seinen feuchtfröhlichen Morgengruß
ab. Macht einen singierten Sturmangriff auf ein paar asthmatische
Großstadttauben. Fährt einem gähnenden Straßenkehrer ausmunternd
zwischen die Beine. Und kehrt nach dieser kleinen Morgengymnastik
angeregt und befriedigt zu seinem Besitzer, dem Herrn Schwarz zurück,
der ihn dann an die Leine nimmt und mit ihm in die nahen
Anlagen entschwindet. Jeden Herrgottsmorgen. Punkt
6 Uhr 14. Sommer wie Winter. Bei 4O Grad
Minus, Sonnenschein und Wolkenbruch.
Mit automatischer Verläßlichkeit. Seit
beinahe 7 Jahren!... Eine Minu-
te später — also präzis 6 Uhr
15 — wacht der morgenstille
Platz auf. Wie auf ein Kom-
mando raffeln Rolläden in
die Höhe. Klappern die
ersten Schritte über den
Asphalt. Scheppert eine
heisere Ladenklingel.
Hebt auf Nummer 13
erster Stock rechts, der
blinde Kanari das Sin-
gen an . . . Als Erster
verläßt der Herr Ver-
kehrswachtmann Sieben-
tod seinen Bau. Versteckt
den Rest seiner Morgenzi-
garre sorgfältig in der kleinen \
Küble unter dem eisernen Fuß-
abstreifer. Wie ein Attribut
seiner ganz privaten Menschlich-
keit, das er abends nach dem Dienst
wieder auszugraben pflegt. Zieht dann
mit eutschloffenem Ruck den gestreiften
Schreibärmel über. Pumpt mehrere Hektoliter
Amtswürde und Machtbewußtsein in seine an
sich friedfertige Seele. Und begibt sich mit weit-
ausgreifendem Militärschritt nach seinemPosten.
Gleichzeitig klemmt sich drüben der Bäckerschani
samt seinem Semmelkorb aus sein Radl und
schiebt mit „Heil dir im Siegerkranz..." gdtt-
vergnügt in die Gegend . . . „Wollt'« öS glei
auffteh'n, faule Bagasch'! Der Schlupserl bat scho' bellt", knarzt die
grantige Stimme der Frau Studienrätin aus dem Fünferhaus in den
Morgentraum ihrer sechs jugendlichen Pensionäre. Während der Herr
Studienrat schon zwischen Malzkaffee und verlegten Kragenknöpferl
das Harmonium für die allmorgendliche Andacht schleift.
Wenn der Schlupferl gebellt hat, geht auch der Trambahnführer
Beißzang zum Dienst. Und der Herr Alois Walker, Astrolog und
„Warum sind Sie in Ihren letzten Stellungen
nur so kurze Zeit geblieben?" fragt Frau Placke
das neue Dienstmädchen, das engagiert werden
möchte. — „Weil meine Gnädisen alle kurz nach
meinem Stellungsantritt jcstorben sind." —
„Nimm sie! Nimm sie!" schreit Herr Placke.
geprüfter Maffeur, stolpert mit seinem schwarzen Köfferchen quer über
den Platz. Man könnte sogar sagen, „schwergeprüfter" Maffeur»
denn sein erster Gang gilt dem Herrn Kommerzienrat Sichelmagen
auf 7a, — zweieinviertel Zentner Lebendgewicht — dem er innerhalb
zwanzig Minuten die entgleisten Gesichtszüge und diversen andern
Fettpolster umgruppieren, das Tageshoroskop stellen und allerbano
„Vermischtes" von Fräulein Stanja Kozlerowa, der ruffischen Edel-
filmkomparseriediva von Nummer 14 erzählen muß. Alles zusammen
für vier Mark fünfzig!
Und auch die reizende Diva selbst fährt beim Weckruf des Schlüp-
fer! in ihre Saffianpantöffelchen. Nachdem sie auf der
Dezimalwage mit einem originalruffischen „Pja-
greff" 26 Gramm Übergewicht sestgestellt
bat, stürzt sie sich — bei sperroffenen
Fenstern und geradezu kleinlich spar-
sam bekleidet — in ihr tägliches
Training.ZurheimlichenGaudi
des Herrn Oberst a.D.Schlan-
X kerl vis-a-vis, den zu gleicher
Zeit das hundliche Alarm-
signal auf seinen Beob-
achterposten hinter den
Jalousien treibt. Sein
altes Soldatenherz
flammt bei dem stram-
men Exerzieren da drü-
ben in jugendlicher Be-
geisterung. Blitzenden
Auges pfeift er dazu leise
zwischen den Zähnen den
„Hokensriedberger"... Bis
seine Gattin Wilbelnüne,
in Flanellunterrock und zer-
zausten Nachtzöpschen, in jäh
aus seinen Reminiszenzen reißt
und ihm erbittert erklärt, daß sie sich
wegen dem Filmpopperl doch noch ein-
mal wird scheiden lasten. Nach dieser leeren
Versprechung schmettert sie die Eßzimmertür
zu und kocht ihre Wut draußen an der Lisi aus,
die mit übernächtigten Augen soeben aus ihrer
Kammer kommt. „Zeit, daß Sie endlich er-
scheinen! Jeden Tag wirds später mit dem
Frühstück. Sogar das Flitscherl da drüben steht
früher auf wie Sie ..." — „Aber bitt' schön,
gnä' Frau", erbost sich die Lisi, „grad hat dem
Herrn Schwarz sei' Schlupserl erscht bellt. Und eh net der Schlupferl
bellt bat, steh i net auf — pfeilgrad net!!"
Und sie hat recht. Das Morgengebell des Schlupferl ist der unfehl-
bare Chronometer des ganzen Schillcrplatzes. Unfehlbarer als Radiozeit
und Gebetläuten. Eine Naturerscheinung. Eine meteorologische Tat-
sache. So selbstverständlich und mathematisch exakt, daß sogar der
Uhrmacher an der Ecke jedes Mal die Normaluhr über seinem Laden
96
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Warum sind Sie in Ihren letzten Stellungen nur so kurze Zeit geblieben?"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1928
Entstehungsdatum (normiert)
1923 - 1933
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 169.1928, Nr. 4330, S. 56
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg