o
Alle Jahre wieder-
Von Peter Kringel
Wenn es weihnachtet, dann weihnachtet es überall. Auf die eine
oder andre Weise.
Bei Nieselpriems weihnachtete es auf die andre Weise. Niesel-
priems waren ganz moderne Menschen, die in einer dementsprechen-
den Ehe miteinander lebten und auch dementsprechende Kinder hatten,
nämlich den 7jährigen Ludwig und die 6jährige Lilde. Nieselpriems
hatten eine Wohnung mit Stahlmöbeln, die sie schön fanden. Das
kam daher, daß Lerr Nieselpriem Innenarchitekt war. Die Tante
Auguste aus Klein-Zschocher, die gar nicht in die ganze Modernität
hineinpaßte, aber dennoch jedes Jahr einmal zu längerem Besuch
kam, hatte zwar das erste Mal gesagt, es sei doch übertriebene
Sparsamkeit, daß sie sich Sessel und Stühle aus ausrangierten Gas-
rohren hätten machen lassen, aber Tante Auguste war absolut nicht
maßgebend. And so wie mit den Stahlmöbeln war es bei Niesel-
priems in jeder Beziehung. Man war mutig genug gewesen, mit den
alten Sachen von Knecht Rupprecht, dem Weihnachtsmann, dem
Osterhasen und dem Storch endgültig aufzuräumen. Als Ludwig ein-
mal vom Lehrer nach solchen Dingen gefragt wurde, erklärte er über-
legen, sowas gäbe es nicht, das mache in besseren Familien alles
der Portier.
Es war 5 Ahr nachmittags. Man begann, die letzten Vorberei-
tungen zum Fest zu treffen. Papa Nieselpriem stellte den von einem
kubistischen Schreiner in geometrischen Figuren entworfenen und mit
hellgrünem Schleiflack getönten Weihnachtsbaum in die Mitte des
Salons. Es versteht sich von selbst, daß von Kerzen und Lametta
keine Rede war. Vielmehr war indirekte Beleuchtung von unten
vorhanden und als einziger Schmuck ein im Stile des allzujugend-
lichen Picasso stilisierter Nußknacker angebracht. Frau Nieselpriem
holte das Geschenk für die Kinder aus der Schublade. Es war das
Buch: „Wie erziehe ich meine Eltern?"
Da klingelte es energisch.
„Am Gottes Willen," entfuhr es Dora Nieselpriem, „es wird
doch nicht Tante Auguste sein!" Ewald Nieselpriem zuckle monu-
mental die Achseln und versuchte, vom Fenster herab auf die Straße
zu blicken, was sich aber wegen des herrschenden Schneegestöbers als
unmöglich erwies.
„Wir machen nicht auf!" entschied er.
Da hörte man schwere Tritte auf der Treppe des Einfamilien-
hauses. „Mit Anna werde ich ein Wort reden," sagte Frau Niesel-
priem. „Wie oft habe ich ihr gesagt, sie soll den Schnepper am Laus-
türschloß immer einstellenl"
Aber derartige Aeberlegungen nützten nicht das
geringste mehr, denn schon öffnete sich die Türe,
und herein trat mit einem herztausigen: „Da bin
ich!" der Vetter Emil.
Vetter Emil war das, was man einen ewigen
Studenten nennt. Er hatte wohl gut und gern
seine 23 Semester aus dem Buckel, und es ging
ihm der Ruf voraus, daß er unheimliche Mengen
Alkohol vertragen könne. Außerdem war er stets
in Geldverlegenheit. Jetzt schüttelte er die Flocken
aufs Parkett und verbreitete einen frischen Duft
von Schneeluft und Doppelkümmel. Die Be-
grüßung war kurz, aber herzlos.
Vetter Emil musterte geringschätzig den futu-
ristischen Weihnachtsbaum, legte tiefaufatmend
das Buch „Wie erziehe ich meine Eltern?" beiseite
und sagte schlicht:
„Ihr seid euren Kindern ein anderes Weih-
nachtsfest schuldig I Ich habe unten ein paar
Geschenke liegen, ein Baum steht im Vorgarten,
ebenfalls von mir mitgebracht, und den Weih-
nachtsmann mache ich selber."
kaute wortlos an
zu uns?" fragte
„Muß mich mal trösten, Hab' Verdruß'gehabt. Meine Frau und ich haben da- Dora verfärbte sich. Ewald
rüber gesprochen, was sich jeder zu Weihnachten wünscht. Denken Sie: einen Flügel seiner Anterlippe.
wünscht sie sich!" „Was führt dich eigentlich
„And Sie, Lerr Klappe?" — „Zweil" er dann gewinnend.
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Alle Jahre wieder-
Von Peter Kringel
Wenn es weihnachtet, dann weihnachtet es überall. Auf die eine
oder andre Weise.
Bei Nieselpriems weihnachtete es auf die andre Weise. Niesel-
priems waren ganz moderne Menschen, die in einer dementsprechen-
den Ehe miteinander lebten und auch dementsprechende Kinder hatten,
nämlich den 7jährigen Ludwig und die 6jährige Lilde. Nieselpriems
hatten eine Wohnung mit Stahlmöbeln, die sie schön fanden. Das
kam daher, daß Lerr Nieselpriem Innenarchitekt war. Die Tante
Auguste aus Klein-Zschocher, die gar nicht in die ganze Modernität
hineinpaßte, aber dennoch jedes Jahr einmal zu längerem Besuch
kam, hatte zwar das erste Mal gesagt, es sei doch übertriebene
Sparsamkeit, daß sie sich Sessel und Stühle aus ausrangierten Gas-
rohren hätten machen lassen, aber Tante Auguste war absolut nicht
maßgebend. And so wie mit den Stahlmöbeln war es bei Niesel-
priems in jeder Beziehung. Man war mutig genug gewesen, mit den
alten Sachen von Knecht Rupprecht, dem Weihnachtsmann, dem
Osterhasen und dem Storch endgültig aufzuräumen. Als Ludwig ein-
mal vom Lehrer nach solchen Dingen gefragt wurde, erklärte er über-
legen, sowas gäbe es nicht, das mache in besseren Familien alles
der Portier.
Es war 5 Ahr nachmittags. Man begann, die letzten Vorberei-
tungen zum Fest zu treffen. Papa Nieselpriem stellte den von einem
kubistischen Schreiner in geometrischen Figuren entworfenen und mit
hellgrünem Schleiflack getönten Weihnachtsbaum in die Mitte des
Salons. Es versteht sich von selbst, daß von Kerzen und Lametta
keine Rede war. Vielmehr war indirekte Beleuchtung von unten
vorhanden und als einziger Schmuck ein im Stile des allzujugend-
lichen Picasso stilisierter Nußknacker angebracht. Frau Nieselpriem
holte das Geschenk für die Kinder aus der Schublade. Es war das
Buch: „Wie erziehe ich meine Eltern?"
Da klingelte es energisch.
„Am Gottes Willen," entfuhr es Dora Nieselpriem, „es wird
doch nicht Tante Auguste sein!" Ewald Nieselpriem zuckle monu-
mental die Achseln und versuchte, vom Fenster herab auf die Straße
zu blicken, was sich aber wegen des herrschenden Schneegestöbers als
unmöglich erwies.
„Wir machen nicht auf!" entschied er.
Da hörte man schwere Tritte auf der Treppe des Einfamilien-
hauses. „Mit Anna werde ich ein Wort reden," sagte Frau Niesel-
priem. „Wie oft habe ich ihr gesagt, sie soll den Schnepper am Laus-
türschloß immer einstellenl"
Aber derartige Aeberlegungen nützten nicht das
geringste mehr, denn schon öffnete sich die Türe,
und herein trat mit einem herztausigen: „Da bin
ich!" der Vetter Emil.
Vetter Emil war das, was man einen ewigen
Studenten nennt. Er hatte wohl gut und gern
seine 23 Semester aus dem Buckel, und es ging
ihm der Ruf voraus, daß er unheimliche Mengen
Alkohol vertragen könne. Außerdem war er stets
in Geldverlegenheit. Jetzt schüttelte er die Flocken
aufs Parkett und verbreitete einen frischen Duft
von Schneeluft und Doppelkümmel. Die Be-
grüßung war kurz, aber herzlos.
Vetter Emil musterte geringschätzig den futu-
ristischen Weihnachtsbaum, legte tiefaufatmend
das Buch „Wie erziehe ich meine Eltern?" beiseite
und sagte schlicht:
„Ihr seid euren Kindern ein anderes Weih-
nachtsfest schuldig I Ich habe unten ein paar
Geschenke liegen, ein Baum steht im Vorgarten,
ebenfalls von mir mitgebracht, und den Weih-
nachtsmann mache ich selber."
kaute wortlos an
zu uns?" fragte
„Muß mich mal trösten, Hab' Verdruß'gehabt. Meine Frau und ich haben da- Dora verfärbte sich. Ewald
rüber gesprochen, was sich jeder zu Weihnachten wünscht. Denken Sie: einen Flügel seiner Anterlippe.
wünscht sie sich!" „Was führt dich eigentlich
„And Sie, Lerr Klappe?" — „Zweil" er dann gewinnend.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Muß mich mal trösten, hab' Verdruß' gehabt. ..."
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1934
Entstehungsdatum (normiert)
1929 - 1939
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 181.1934, Nr. 4664, S. 386
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg