Zeichnungen von E. Croissant
Herr Giliar lernte
t§stnisk^ Von Ralph Urban
„Sprachen sind Kapital/ meinte
ein Lerr der Gesellschaft, als nach
dem Essen der Mokka gereicht wurde.
„Manchmal allerdings auch totes
Kapital/ behauptete ein gewisser
Lerr Giliar. „Ich zum Beispiel lernte
in meiner Jugend einmal wie ver-
rückt Estnisch und fand nie mehr
Gelegenheit, diese Sprache anzu-
wenden."
„Warum lernten Sie dann nicht
lieber eine Weltsprache?" wollte der
Gastgeber wissen.
„Am dies zu erklären," sagte Lerr
Giliar, „muß ich Ihnen schon die
ganze Geschichte erzählen. Ich war
damals ein kleiner kaufmännischer
Angestellter, als mir ganz unverhofft eine bedeutende Erbschaft
zufiel. Ein in Reval verstorbener Onkel hatte mir sein ganzes
Vermögen hinterlassen. So trat ich meine erste größere Reise
an und fuhr nach Estland. Mein Onkel war nämlich Teil-
haber an einer Reederei gewesen, und die Firma wollte nun
mit mir wegen der Ablösung persönlich verhandeln. Ich dachte
nicht daran, in Reval zu bleiben, sondern ich beabsichtigte,
mir mit dem ererbten Kapital in der Leimat eine Existenz
als Kaufmann zu schaffen. In Reval angelangt, bezog ich
die Wohnung meines verstorbenen Onkels, der dort als Jung-
geselle gelebt hatte. And schon am Tag nach der Ankunft
begegnete ich meinem Schicksal. Ich kam gerade vom Notar,
sah den Limmel voller Geigen und plötzlich noch etwas: Ein
Landschuh lag einsam aus der Straße. Etwas weiter vorne
eilte ein weibliches Wesen auf phantastisch schönen Beinen
Selbstverständlich äU nebenstehendem Bild)
„Sie wundern sich vielleicht, Lerr Kapitän, daß ich so dumme
Fragen stelle." — „Ach nee, da wunder' ich mich gar nich'I"
Stunde wandern." — „Rede nicht vom Wandern, Emilie!
Der Motor hat schon ein paarmal ausgesetzt."
dahin. Ich hob den Landschuh auf, lief der Dame nach und
überreichte ihr den Fund. Sie lächelte freundlich und sagte
etwas, das ich nicht verstand. In diesem Augenblick, da sie
mir ihr unwahrscheinlich hübsches Gesicht zuwandte, wußte
ich, daß es von nun an um mich geschehen sein würde.
,Sprechen Sie Deutsch?^ flehte ich.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte wieder etwas
Anverständliches. Run gibt es in Reval außer Esten noch
Deutsche, Russen und Schweden. Ich sprach aber nur Deutsch
und kümmerliches Französisch.
,Sprechen Sie Französisch?^ flehte ich dennoch, und wieder
schüttelte die Schöne bedauernd das Laupt. Ein freundlich
warmer Blick traf mich, dann starrte ich ihr nach mit Weh
im Lerzeu. Plötzlich überkam mich zum erstenmal das heiße
Gefühl der alles überwindenden großen Liebe. In einigem
Abstand folgte ich der Dame, bis sie in einer schönen Villa
verschwand. Ich notierte mir Straße und Lausnummer, und
während ich dann langsam nach Laus ging, reifte in mir der
feierliche Entschluß: die oder keine. Am Nachmittag entdeckte
ich eine Auskunftei, wo n>an auch Deutsch sprach, und schon
nach einer Stunde hatte ich einiges in Erfahrung gebracht-
Der Besitzer jener Villa hörte auf den Namen Aprijmi und
besaß ein großes Geschäftshaus für Lerrenkonfektion. Er hatte
eine Tochter namens Anna, achtzehn Jahre alt, die, soviel
man wußte, noch nicht verlobt war. Am nächsten Morgen
ließ ich mir von einem Dolmetsch
einen Brief in estnischer Sprache
schreiben, der etwa lautete: Ange-
betete! Ein Blick in Ihre schönen
Augen genügte, um mich die wahre
Liebe empfinden zu lernen. Werden
Sie doch meine Frau, verehrte Anna.
In vier Wochen komme ich, um Sie
um Ihr Jawort zu bitten. Der Lerr
von gestern mit dem Landschuh/
Diesen Brief schickte ich mit herr-
lichen Rosen an ihre Anschrift.
„Warum sind Sie nicht gleich hin-
gegangen?" fragte einer der Lerren.
„Weil ich doch kein Wort Estnisch
konnte," erklärte Lerr Giliar und
fuhr fort: „Ich hatte mir vorgenom-
men, in diese» vier Wochen die
Sprache zu erlernen. Ich fand einen
Gymnasiallehrer, der sich nach eini-
nigem Zögern bereit erklärte, mir
(Fortsetzung Seite 375)
373
Herr Giliar lernte
t§stnisk^ Von Ralph Urban
„Sprachen sind Kapital/ meinte
ein Lerr der Gesellschaft, als nach
dem Essen der Mokka gereicht wurde.
„Manchmal allerdings auch totes
Kapital/ behauptete ein gewisser
Lerr Giliar. „Ich zum Beispiel lernte
in meiner Jugend einmal wie ver-
rückt Estnisch und fand nie mehr
Gelegenheit, diese Sprache anzu-
wenden."
„Warum lernten Sie dann nicht
lieber eine Weltsprache?" wollte der
Gastgeber wissen.
„Am dies zu erklären," sagte Lerr
Giliar, „muß ich Ihnen schon die
ganze Geschichte erzählen. Ich war
damals ein kleiner kaufmännischer
Angestellter, als mir ganz unverhofft eine bedeutende Erbschaft
zufiel. Ein in Reval verstorbener Onkel hatte mir sein ganzes
Vermögen hinterlassen. So trat ich meine erste größere Reise
an und fuhr nach Estland. Mein Onkel war nämlich Teil-
haber an einer Reederei gewesen, und die Firma wollte nun
mit mir wegen der Ablösung persönlich verhandeln. Ich dachte
nicht daran, in Reval zu bleiben, sondern ich beabsichtigte,
mir mit dem ererbten Kapital in der Leimat eine Existenz
als Kaufmann zu schaffen. In Reval angelangt, bezog ich
die Wohnung meines verstorbenen Onkels, der dort als Jung-
geselle gelebt hatte. And schon am Tag nach der Ankunft
begegnete ich meinem Schicksal. Ich kam gerade vom Notar,
sah den Limmel voller Geigen und plötzlich noch etwas: Ein
Landschuh lag einsam aus der Straße. Etwas weiter vorne
eilte ein weibliches Wesen auf phantastisch schönen Beinen
Selbstverständlich äU nebenstehendem Bild)
„Sie wundern sich vielleicht, Lerr Kapitän, daß ich so dumme
Fragen stelle." — „Ach nee, da wunder' ich mich gar nich'I"
Stunde wandern." — „Rede nicht vom Wandern, Emilie!
Der Motor hat schon ein paarmal ausgesetzt."
dahin. Ich hob den Landschuh auf, lief der Dame nach und
überreichte ihr den Fund. Sie lächelte freundlich und sagte
etwas, das ich nicht verstand. In diesem Augenblick, da sie
mir ihr unwahrscheinlich hübsches Gesicht zuwandte, wußte
ich, daß es von nun an um mich geschehen sein würde.
,Sprechen Sie Deutsch?^ flehte ich.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte wieder etwas
Anverständliches. Run gibt es in Reval außer Esten noch
Deutsche, Russen und Schweden. Ich sprach aber nur Deutsch
und kümmerliches Französisch.
,Sprechen Sie Französisch?^ flehte ich dennoch, und wieder
schüttelte die Schöne bedauernd das Laupt. Ein freundlich
warmer Blick traf mich, dann starrte ich ihr nach mit Weh
im Lerzeu. Plötzlich überkam mich zum erstenmal das heiße
Gefühl der alles überwindenden großen Liebe. In einigem
Abstand folgte ich der Dame, bis sie in einer schönen Villa
verschwand. Ich notierte mir Straße und Lausnummer, und
während ich dann langsam nach Laus ging, reifte in mir der
feierliche Entschluß: die oder keine. Am Nachmittag entdeckte
ich eine Auskunftei, wo n>an auch Deutsch sprach, und schon
nach einer Stunde hatte ich einiges in Erfahrung gebracht-
Der Besitzer jener Villa hörte auf den Namen Aprijmi und
besaß ein großes Geschäftshaus für Lerrenkonfektion. Er hatte
eine Tochter namens Anna, achtzehn Jahre alt, die, soviel
man wußte, noch nicht verlobt war. Am nächsten Morgen
ließ ich mir von einem Dolmetsch
einen Brief in estnischer Sprache
schreiben, der etwa lautete: Ange-
betete! Ein Blick in Ihre schönen
Augen genügte, um mich die wahre
Liebe empfinden zu lernen. Werden
Sie doch meine Frau, verehrte Anna.
In vier Wochen komme ich, um Sie
um Ihr Jawort zu bitten. Der Lerr
von gestern mit dem Landschuh/
Diesen Brief schickte ich mit herr-
lichen Rosen an ihre Anschrift.
„Warum sind Sie nicht gleich hin-
gegangen?" fragte einer der Lerren.
„Weil ich doch kein Wort Estnisch
konnte," erklärte Lerr Giliar und
fuhr fort: „Ich hatte mir vorgenom-
men, in diese» vier Wochen die
Sprache zu erlernen. Ich fand einen
Gymnasiallehrer, der sich nach eini-
nigem Zögern bereit erklärte, mir
(Fortsetzung Seite 375)
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Ist da Wasser in dem Krug?" "Herrlich diese schattige Allee!" "Selbstverständlich"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1939
Entstehungsdatum (normiert)
1934 - 1944
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 190.1939, Nr. 4898, S. 373
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg