Das erste graue Haar
Von Io Lans Rösler
Das erste graue Laar ist der große Wendepunkt im Leben jeder
Frau. Eines Morgens wachst du auf, trittst ahnungslos zum Spiegel,
und da entdeckst du es zum erstenmal. Gleich neben deni Ohr, ein
wenig über der Schläfe. Ist es eines? Sind es mehrere? Du traust
dich nicht, hinzusehen, glaubst, daß du noch träumst, daß der Spiegel
trügt, und beginnst, erschrocken deine Jahre nachzuzählen. Ja, es
stimmt schon, die Jahre werden nicht weniger, so oft du sie auch
zählen magst, so gern du auch vergessen wolltest, sie zu zählen. Das
erste graue Laar mahnt dich daran. Viele Frauen sind traurig an
diesem Tag. Aber das menschliche Lerz hat ja ein leicht zu öffnen-
des Pförtlein mitbekommen, durch das der Trost leicht eindringt, und
ehe die Sonne einmal über die Erde gewandert ist, ist das erste
graue Laar schon zehnmal wieder ver-
gessen worden. Jede Frau vergißt es
auf ihre Art.
Die Dame nach der Mode.
„Gnädige Frau, die Modistin wartet!"
„Laffen Sie sie herein!"
Mit einem plätschernden Wort-
schwall fiel die junge Modistin in
das kleine Kabinett. „Ich bringe die
neuesten Modelle, gnädige Frau —
gnädige Frau sehen heute wieder be-
zaubernd aus, welche Freude für mich,
für gnädige Frau arbeiten zu dürfen
— die neuen Lüte werden gnädige
Frau kleiden — gnädige Frau werden
begeistert sein — die Mode dieses Jah-
res! Ein Paradies! — Lüte? Nein,
Gedichte!-wer trägt heute noch
Lüte? Ein Lut mit Rand? Längst
überholt! Ein Lut mit Kopf ? Die Mode
von gestern! Ein wenig Stroh, ein wenig
Band, eine kleine Feder — Sie werden
gleich selbst sehen, gnädige Frau —
wollen gnädige Frau probieren?"
„Nein. Ich will nicht probieren."
„Aber gnädige Frau!"
Die Modistin hat sich vor Schreck
auf ihren kleinen weißen, entzückenden,
runde», hinter ihr liegenden Lut gesetzt.
Mit weit aufgerissenen, kugelrunden
Augen starrt sie auf ihre Kundin. Plötz-
lich bleibt ihr Blick auf einer Stelle
haften. Sie kann ihn nicht losreißen.
Die Kundin nickt ernst.
„Jetzt sehen Sie es selbst, mein Kind," sagt sie.
„Nichts sehe ich, gnädige Frau, gar nichts!"
„Das erste graue Laar!"
„Das schwarze Laar von gnädiger Frau ist so schön wie immer!"
„Warum lügen Sie? Sie haben es ja selbst gesehen!"
Die Modistin schluckt aufgeregt.
„Es ist nur ein wenig Puder, gnädige Frau, bestimmt, nur ein
wenig Puder, der auf Ihr Laar fiel."
„Sie glauben?"
„Ich glaube es nicht nur, ich sehe es. Gnädige Frau sollte» so-
gleich zum Friseur gehen. Ein kleiner Aeberguß, der Spuk ist ver-
schwunden."
Die Dame lächelt refigniert.
„Ich war beim Friseur, vorgestern. Das graue Laar ist wieder-
gekommen."
„And wenn es gnädige Frau mit einer anderen Farbe versuchte?
Vielleicht mit Tizian?"
388
„Kindl In meinen Jahren trägt man doch nicht Rot!"
Die Modistin sagt leise: „Tizian deckt, gnädige Frau! Ich bin
doch Modistin — ich habe viele Kunden — Sie werden sehen,
gnädige Frau-"
Der Dame wird allmählich wohler ums Lerz. Die Idee gefällt
ihr. Tizian hat sie ihr Laar seit drei Jahren nicht getragen. Sie
wird es versuchen. Sie lächelt. Die Modistin kann also ihre Lüte
zeigen.
„Wie gefallen Ihnen die Lüte, gnädige Frau?"
Die Kundin wirft einen fiüchtigen Blick in die Schachtel.
„Das ist alles? Aber mein liebes Kindl So etwas kann ich doch
in zehn Jahren noch tragen. Latten Sie mich für eine alte Frau?
Wenn ich einmal über fünfzig sein werde,
aber bis dahin habe ich ja noch drei
lange Jahre Zeit! Nein, liebes Kind,
bringen Sie mir etwas Jugendlicheres,
etwas Flottes —"
„Vielleicht ein Matrosenkäppchen,
gnädige Frau? Mit Band und Auf-
schrift? Gefiele Ihnen das?"
Die Kundin jauchzt auf: „Wunder-
voll! Ein Matrosenkäppchenl Ausge-
zeichnet! Warum haben Sie nicht gleich
daran gedacht?"
Die Mollige.
Die Mollige lief aufgeregt in die
Küche.
„Marianka! Marianka! Schnell!"
rief sie. „Kommen Sie her!"
„Was ist? Was ist?"
„Da schauen Sie her!"
Die Mollige hielt den Kopf ge-
senkt —
Die böhmische Köchin brach in einen
Schrei aus.
„Icssasmariaundjosef! Die Gnädigste
wird alt, die Gnädigste hat weißes Laar
und gleich ganzer Laufen! Jetzt ist aus,
alles aus! Gnädigste sind erledigt, glatt
erledigt — jetzt brauchen Gnädigste nix
mehr achtgeben aufFigura,jetzt brauchen
Gnädigste nix mehr halten auf Taille —
brauchen Gnädigste nix mehr sich ein-
schnüren mit Korsett und essen nach
Kalorien — werden Gnädigste sich jetzt
sattessen an Knödlitschki und Buchlitschki
und Kolatschii"
Der Molligen lief ein Pfützchen auf der Zunge zusammen. Trotz-
dem gab sie den Kampf mit dem Alter noch nicht auf.
„Können wir nicht ausreißen erstes graues Laar, Marianka?"
Die Köchin trocknete sich die Lände an der Schürze.
„Können wir machen, können wir ausreißen — kommen Sie, reißen
wir erstes Laar aus — da haben Sie es — hats weh getan? —
immer können wir das aber nicbt machen, zweites graues Laar kommt
viel schneller und drittes ganz schnell mit viertem zusammen — müssen
sich Gnädigste schon daran gewöhnen. Natürlich müssen gnädige Frau
nix erzählen der Frau Lawlitscheck und der Frau Napaz und der
Frau Prohaska, täten sich zu sehr freuen die Frau Lawlitschek und
die Frau Napaz und die Frau Prohaska über erstes graues
Laar —"
Der Gedanke an die um ein halbes Jahr jüngere» Freundinnen
verstimmte die Mollige zuinnerst.
„Geh an die Arbeit, Marianka!", rief sie, „genug gesprochen über
erstes graues Laar!"
Von Io Lans Rösler
Das erste graue Laar ist der große Wendepunkt im Leben jeder
Frau. Eines Morgens wachst du auf, trittst ahnungslos zum Spiegel,
und da entdeckst du es zum erstenmal. Gleich neben deni Ohr, ein
wenig über der Schläfe. Ist es eines? Sind es mehrere? Du traust
dich nicht, hinzusehen, glaubst, daß du noch träumst, daß der Spiegel
trügt, und beginnst, erschrocken deine Jahre nachzuzählen. Ja, es
stimmt schon, die Jahre werden nicht weniger, so oft du sie auch
zählen magst, so gern du auch vergessen wolltest, sie zu zählen. Das
erste graue Laar mahnt dich daran. Viele Frauen sind traurig an
diesem Tag. Aber das menschliche Lerz hat ja ein leicht zu öffnen-
des Pförtlein mitbekommen, durch das der Trost leicht eindringt, und
ehe die Sonne einmal über die Erde gewandert ist, ist das erste
graue Laar schon zehnmal wieder ver-
gessen worden. Jede Frau vergißt es
auf ihre Art.
Die Dame nach der Mode.
„Gnädige Frau, die Modistin wartet!"
„Laffen Sie sie herein!"
Mit einem plätschernden Wort-
schwall fiel die junge Modistin in
das kleine Kabinett. „Ich bringe die
neuesten Modelle, gnädige Frau —
gnädige Frau sehen heute wieder be-
zaubernd aus, welche Freude für mich,
für gnädige Frau arbeiten zu dürfen
— die neuen Lüte werden gnädige
Frau kleiden — gnädige Frau werden
begeistert sein — die Mode dieses Jah-
res! Ein Paradies! — Lüte? Nein,
Gedichte!-wer trägt heute noch
Lüte? Ein Lut mit Rand? Längst
überholt! Ein Lut mit Kopf ? Die Mode
von gestern! Ein wenig Stroh, ein wenig
Band, eine kleine Feder — Sie werden
gleich selbst sehen, gnädige Frau —
wollen gnädige Frau probieren?"
„Nein. Ich will nicht probieren."
„Aber gnädige Frau!"
Die Modistin hat sich vor Schreck
auf ihren kleinen weißen, entzückenden,
runde», hinter ihr liegenden Lut gesetzt.
Mit weit aufgerissenen, kugelrunden
Augen starrt sie auf ihre Kundin. Plötz-
lich bleibt ihr Blick auf einer Stelle
haften. Sie kann ihn nicht losreißen.
Die Kundin nickt ernst.
„Jetzt sehen Sie es selbst, mein Kind," sagt sie.
„Nichts sehe ich, gnädige Frau, gar nichts!"
„Das erste graue Laar!"
„Das schwarze Laar von gnädiger Frau ist so schön wie immer!"
„Warum lügen Sie? Sie haben es ja selbst gesehen!"
Die Modistin schluckt aufgeregt.
„Es ist nur ein wenig Puder, gnädige Frau, bestimmt, nur ein
wenig Puder, der auf Ihr Laar fiel."
„Sie glauben?"
„Ich glaube es nicht nur, ich sehe es. Gnädige Frau sollte» so-
gleich zum Friseur gehen. Ein kleiner Aeberguß, der Spuk ist ver-
schwunden."
Die Dame lächelt refigniert.
„Ich war beim Friseur, vorgestern. Das graue Laar ist wieder-
gekommen."
„And wenn es gnädige Frau mit einer anderen Farbe versuchte?
Vielleicht mit Tizian?"
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„Kindl In meinen Jahren trägt man doch nicht Rot!"
Die Modistin sagt leise: „Tizian deckt, gnädige Frau! Ich bin
doch Modistin — ich habe viele Kunden — Sie werden sehen,
gnädige Frau-"
Der Dame wird allmählich wohler ums Lerz. Die Idee gefällt
ihr. Tizian hat sie ihr Laar seit drei Jahren nicht getragen. Sie
wird es versuchen. Sie lächelt. Die Modistin kann also ihre Lüte
zeigen.
„Wie gefallen Ihnen die Lüte, gnädige Frau?"
Die Kundin wirft einen fiüchtigen Blick in die Schachtel.
„Das ist alles? Aber mein liebes Kindl So etwas kann ich doch
in zehn Jahren noch tragen. Latten Sie mich für eine alte Frau?
Wenn ich einmal über fünfzig sein werde,
aber bis dahin habe ich ja noch drei
lange Jahre Zeit! Nein, liebes Kind,
bringen Sie mir etwas Jugendlicheres,
etwas Flottes —"
„Vielleicht ein Matrosenkäppchen,
gnädige Frau? Mit Band und Auf-
schrift? Gefiele Ihnen das?"
Die Kundin jauchzt auf: „Wunder-
voll! Ein Matrosenkäppchenl Ausge-
zeichnet! Warum haben Sie nicht gleich
daran gedacht?"
Die Mollige.
Die Mollige lief aufgeregt in die
Küche.
„Marianka! Marianka! Schnell!"
rief sie. „Kommen Sie her!"
„Was ist? Was ist?"
„Da schauen Sie her!"
Die Mollige hielt den Kopf ge-
senkt —
Die böhmische Köchin brach in einen
Schrei aus.
„Icssasmariaundjosef! Die Gnädigste
wird alt, die Gnädigste hat weißes Laar
und gleich ganzer Laufen! Jetzt ist aus,
alles aus! Gnädigste sind erledigt, glatt
erledigt — jetzt brauchen Gnädigste nix
mehr achtgeben aufFigura,jetzt brauchen
Gnädigste nix mehr halten auf Taille —
brauchen Gnädigste nix mehr sich ein-
schnüren mit Korsett und essen nach
Kalorien — werden Gnädigste sich jetzt
sattessen an Knödlitschki und Buchlitschki
und Kolatschii"
Der Molligen lief ein Pfützchen auf der Zunge zusammen. Trotz-
dem gab sie den Kampf mit dem Alter noch nicht auf.
„Können wir nicht ausreißen erstes graues Laar, Marianka?"
Die Köchin trocknete sich die Lände an der Schürze.
„Können wir machen, können wir ausreißen — kommen Sie, reißen
wir erstes Laar aus — da haben Sie es — hats weh getan? —
immer können wir das aber nicbt machen, zweites graues Laar kommt
viel schneller und drittes ganz schnell mit viertem zusammen — müssen
sich Gnädigste schon daran gewöhnen. Natürlich müssen gnädige Frau
nix erzählen der Frau Lawlitscheck und der Frau Napaz und der
Frau Prohaska, täten sich zu sehr freuen die Frau Lawlitschek und
die Frau Napaz und die Frau Prohaska über erstes graues
Laar —"
Der Gedanke an die um ein halbes Jahr jüngere» Freundinnen
verstimmte die Mollige zuinnerst.
„Geh an die Arbeit, Marianka!", rief sie, „genug gesprochen über
erstes graues Laar!"
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Vor der Bescherung"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1941
Entstehungsdatum (normiert)
1936 - 1946
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 195.1941, Nr. 5029, S. 388
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg