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Ein Lord vor 100 Jahren

Spät ist’s, beinahe Mitternacht.

Der alte Lorcl mag noch nicht schlafen;
Verdrießlichkeiten gab es heut’,

Die seinen werten Sohn betrafen.
Spielschulden wieder mal! Sofort
Zu zahlen, ist da Ehrensache.

Der Bursche kriegte seinen Scheck,
Doch, daß man wett den Ausfall mache,
Muß Daisy nun verzichten wohl
Auf die gewünschte Perlenkette.

Der Aerger quält den alten Lord;

Er weiß, der Schlaf flieht ihn im Bette.

Doch halt — er hat ja den Bericht
Noch immer nicht sich vorgenommen.
Der gestern schon aus Irland ihm
Von seinen Gütern zugekommen.

Er hat sie selber nie gesehn,

Weil Irland er durchaus verachtet;

In kleine Farmen auf geteilt
Ist sein Besitztum und verpachtet.

Jetzt hat er einen neuen Mann
Dorthin entsendet zur Verwaltung,
Der strengste flücksichtlosigkeit
Versprach und schärfste Kräften tfaltung.

Von diesem Mann liest nun der Lord:

„ Wie Eure Lordschaft anempfohlen,
Hab’ ich die Mittel untersucht,

Ob hier nicht mehr herauszuholen.

Und mit Erfolg! Der Pachtzins läßt
In vielen Fällen noch sich steigern;
Die Kerle werf ’ ich glatt hinaus,

Die meine Forderung verweigern.

Mit Stundungen ward auch bisher
Schon viel zu viel Geduld verschwendet;

Ich habe zehn Familien jetzt
Bis auf die letzte Kuh gepfändet.

Den Leuten hier ziemt Spärlichkeit:
Sie können ja Kartoffeln fressen,
Damit der Pachtzins aufgebracht.

Ich werde sie entsprechend pressen
Und denke, daß es möglich ist.
Demnächst zu Eurer Lordschaft Händen
Als Mehrertrag für das Quartal
Dreitausend Pfund zu übersenden.“

Der alte Lord liest den Bericht
Mit immer wachsendem Vergnügen,
Und statt des schlimmen Aergers strahlt
Nun Heiterkeit aus seinen Zügen.

Er denkt: „Das sieht ja prächtig aus!
Die Perlenkette werd’ ich kaufen.
Und schließlich darf der Junge auch
Mal wieder an den Spieltisch laufen.
Ich danke Gott, der mir geschickt
Jetzt als Verwalter diesen Braven;

Beruhigt geh’ ich nun zu Bett
Und werde ganz vorzüglich schlafen.“

Doch etwas

„Drei Stunden habe ich heute an an der Theaterkasse nach Eintritts-
karten für die Festvorstellung gestanden 1"

„Und was haben Sie gekriegt?"

„Kalte Füße!"'

Ein Bund Sicherheitsnadeln D°nAlfr-dN,cht-r

Meine Schwägerin Anita wohnt auf dem Lande. Land-
menschen — hach, diese Musterkreaturen — sind Pünktlichkeit
gewöhnt: Punkt Glock sechs muß die Kuh gefüttert werden,
die Kühner äugen Punkt sieben nach dem Fenster, aus dem
die Futterhand streut, der Kahn kräht frühmorgens mit un-
bestechlicher Pünktlichkeit nach seiner Sonnenzeit, und dann
heißt es aufstehen. Also kurz, Frauen vom Lande sind ganz
anders als Großstadtdamen. Wenn man sich mit einer von
diesen auf 16 Uhr ins Cafe Semmelmeier verabredet, dann
kümmern sie sich überhaupt nicht um ihre Armbanduhr dabei,
sondern kommen irgendwann, bloß nicht um 16 Ahr. Ist es
nicht so?

Es ist so. And eben deshalb freute ich mich so jungleutnants-
mäßig auf den Besuch meiner Schwägerin Anita. Sie kam
vom Lande, und sie brachte bestimmt die Pünktlichkeit mit in
unsere überzivilisierte Großstadt-Lebenssphäre.

Ich deutete das auch meiner Frau gegenüber an, aber die
lächelte nur mokant, so, als wollte sie sagen: „Du reiner Tor!"
Gewöhnlich sagt sie es milder, indem sie murmelt: „Du Idea-
list!" Denn von Idealisten nimmt sie offenbar an, daß die sich
innerhalb der Bezirke der Wirklichkeit gelegentlich irren.

Aber wie denn, war die Pünktlichkeit einer Frau vom
Lande nicht unbedingt etwas Reales? Wo ist da was von
Phantasie, wenn ich mit einer ländlichen Schönen ausgehen
will und ihr sage: „Punkt 11 mußt du aber startbereit da-
stehen, verstehst du?" And ich erwarte sie eigentlich erst um
II'/-, aber sie ist tatsächlich Punkt 11 fertig und wartet schon
auf mich, da ich selber später kontme. Ich frage, ist das nichts
Reales?

Ich ging also mit meiner Schwägerin Anita in die Stadt.
Zunächst blieb sie vor jeglichem Schaufenster stehen, denn sie
wab seit Jahren nicht in der Großstadt gewesen, und wir kamen
auf diese Weise, rein geographisch gesehen, nicht so recht vom
Fleck, aber schließlich langten wir doch an der Ecke Barfußplatz-
Münzstraße an, dort, wo das große Warenhaus von Ramsch
& Sohn steht, und da war Anita ja nun freilich vollends
weg: „Aber nein! Was haben die alles ausgestellt!" Mir stand
der Sinn mehr nach einem Cafe, und ich wollte Anita weiter
ziehen, sie aber stemmte sich mit ländlicher Kraft dagegen, daß
es in ihrem Aermelfutter krachte, und sagte ziemlich gebieterisch,
wie Landfrauen nun einmal sprechen: „Los! Wir gehen mal
rein!" — „Danke," sag'e ich, „ich wüßte nicht, was ich drin
sollte, bayrisch Bier gibt's da drin nicht für meinen bildschönen
Durst." Anita aber überlegte blitzschnell und erklärte: „Du,
ich brauche nämlich ein Bund Sicherheitsnadeln. Und die kriege
ich hier drin doch billig. Du wartest, ich bin gleich wieder da!"
Eine Antwort wartete sie gar nicht ab, sondern fegte durch
die Drehtür, wobei sie sich prompt klemmte, ins Innere des
Warenpalastes, so ähnlich, wie ein Kind in eine Weihnachts-
feier stürmt, in der allerhand verteilt wird.

Und ich wartete. Ich besah mir der Reihe nach alle zehn
Riesenschaufenster von oben und von unten, dann von unten
und oben, darauf von rechts nach links, daraufhin von links
nach rechts und wollte gerade anfangen, sie in Kreisbogen zu
besehen, als mir einfiel, doch mal nach der Ahr zu schauen:
Anita war seit vollen 27 Minuten im Warenhaus und suchte
offenbar noch immer nach dem Stand mit den Sicherheits-
nadeln. Vielleicht war er im vierten Stock, und sie durchsockte
noch das dritte, nachdem sie Erdgeschoß und erste und zweite
Etage durchquirlt halte, nicht ahnend, daß man in solchen Fällen
den Portier fragt oder irgend einen Rayonchef, oder aber,
noch einfacher, im Treppenhaus liest, was da groß angeschlagen
steht: 1. Stock Porzellan, Glas, Blech und Ansinn, 2. Stock
Papier, Bücher und anderen Quatsch, und so fort. Ich über-
legte: Lief ich nun Anita nach, dann fuhr sie vielleicht gerade,
unter dem Dache angelangt, mit dem Fahrstuhl nach unten,
und ich fand sie nie. Oder ich fing von oben an, um ihr bestimmt

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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Ein Lord vor 100 Jahren"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Claus, Martin
Entstehungsdatum
um 1942
Entstehungsdatum (normiert)
1937 - 1947
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
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Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 196.1942, Nr. 5032, S. 22

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Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
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