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Erlebnis mit einem eigenen Gedicht
Von Josef Robert Larrer
Ja, es kommt vor; auch Gedichte, eigene Gedichte, können Erleb-
nisse vermitteln. Vielleicht wird jetzt ein boshafter Kollege sagen:
„Was kann das schon für ein Erlebnis sein? Vielleicht hat er eben
ein Gedicht zum Hundertstenmal von irgendeiner Zeitung zurück-
erhalten und feiert nun dieses traurige, aber für die blutarmen
Kinder seiner Muse gar nicht so seltene Jubiläum als ein Erlebnis!
Dieses Erlebnis ist also für die moderne Oeffentlichkeit von gar
keinem Interesse!"' ... Nein, mein Erlebnis ist ganz anders!
Am gleich zum Thema und in das Erlebnis zu kommen: es handelt
sich um ein bereits gedrucktes Gedicht von mehr als achtzig Zeilen.
Dieses Gedicht handelt von der Liebe und bringt, durch die Zeich-
nungen eines witzigen Künstlers gehoben, dem schüchternen Jüngling
Anweisungen, wie er die Be-
kanntschaft eines jungen Mäd-
chens finden könne, wie er es an-
stellen müsse, um nicht gleich beim
ersten Versuch, beim ersten Wort
von dem Mädchen abgewiesen
zu werden.
Das besagte Gedicht war also
vor wenigen Tagen in dem Ma-
gazin „Der violette Kolibri" er-
schienen. Ich trug ein Exemplar
bei mir, nicht etwa, um meine
sämtlichen Bekannten und Ver-
wandten bis in das 27. Glied da-
mit zu beglücken; nein, ich wollte
vielmehr mit Lilfe des selbst ver-
faßten und in abgenützte Reime
gegossenen Anleiters, wie man
zur Liebe kommt, mein Glück bei
den Damen versuchen.
Die praktische Feuerprobe
mußte bestanden werden! Denn
so schön und überzeugend ich auch
gedichtet hatte, so war doch alles
zu nächtlich stiller und einsamer
Stunde aus der Phantasie ge-
nommen worden und nicht aus
dem Leben.
Mein Exemplar des „Violet-
ten Kolibris" in der Tasche, nahm
ich auf einer Bank im Stadtpark
Platz. Die Sonne leuchtete auf
das vergoldete Standbild des
Mustkzauberers Johann Strauß;
ich sah darin ein gutes Vorzeichen.
378
Ich saß am äußersten Ende der Bank. Am anderen Ende saß ein
Mädchen, über das ich nächstens Verse schreiben werde. Ich über-
dachte mein Gedicht und faßte bebend den Entschluß, nach meiner
in Versen gegebenen Methode Anknüpfungen zu versuchen. Aber ich
fand keinen Mut. Ich nahm mir vor, leise bis hundert zu zählen
und dann das Mädchen anzusprechen. Ich kam bis vierundneunzig;
ich brauchte dazu fünf Minuten; denn ich zählte sehr langsam. Bei
fünfundneunzig kam ein junger, eleganter Lerr und setzte sich zwischen
mich und das Mädchen. And welcher Zufall, besser: welche Bosheit
des Schicksals! Der Lerr hielt den neusten „Violetten Kolibri" in
der Land. Ich wünschte den jungen Mann in jenes Land, wo die
Kolibris frei herumfliegen. Mein Wunsch ging nicht in Erfüllung,
vielmehr schlug der junge Mann
den „Violetten Kolibri" auf und
begann zu lesen; ich hörte ganz
deutlich, daß er meine Verse
holprig skandierte. Plötzlich lachte
er laut auf, er machte Ausrufe,
für die ich ihn am liebsten er-
würgt hätte, und wandte sich un-
vermittelt an mich:
„Verzeihen Sie, mein Lerr,
daß ich Sie etwas frage! Sie sehen
intelligent aus. Sie haben doch
Zeit?"
Ich nickte. „Bitte, fragen Sie
immerhin!" Ich schluckte einen
Tiernamen in mich hinein.
„Laben Sie schon den neuesten
Violetten Kolibri gelesen?"
Ich verneinte und schob mein
Exemplar noch tiefer in die
Tasche.
„Da steht ein Gedicht über
die Liebe; es will Anleitungen
geben, wie man sich den Mädchen
nähern soll ... Nein, zu dumm,
zu lächerlich! Als ob heutzutage
die Sache so schwer wäre! Lören
Sie nur!" And er las mir mein
Gedicht vor. Ich bemerkte, daß
das Mädchen neugierig zuhörte
und vor sich hinlächelte. Biswei-
len lachte es voll heraus. Ich
wollte in den Boden versinken;
ich versank nicht, ich Feigling
lächelte sogar mit! Ich lächelte
„Großartig! Du kannst jetzt aufhören, Liebling; der Zweck ist
erreicht, der letzte Gast ist eben gegangen!"
Erlebnis mit einem eigenen Gedicht
Von Josef Robert Larrer
Ja, es kommt vor; auch Gedichte, eigene Gedichte, können Erleb-
nisse vermitteln. Vielleicht wird jetzt ein boshafter Kollege sagen:
„Was kann das schon für ein Erlebnis sein? Vielleicht hat er eben
ein Gedicht zum Hundertstenmal von irgendeiner Zeitung zurück-
erhalten und feiert nun dieses traurige, aber für die blutarmen
Kinder seiner Muse gar nicht so seltene Jubiläum als ein Erlebnis!
Dieses Erlebnis ist also für die moderne Oeffentlichkeit von gar
keinem Interesse!"' ... Nein, mein Erlebnis ist ganz anders!
Am gleich zum Thema und in das Erlebnis zu kommen: es handelt
sich um ein bereits gedrucktes Gedicht von mehr als achtzig Zeilen.
Dieses Gedicht handelt von der Liebe und bringt, durch die Zeich-
nungen eines witzigen Künstlers gehoben, dem schüchternen Jüngling
Anweisungen, wie er die Be-
kanntschaft eines jungen Mäd-
chens finden könne, wie er es an-
stellen müsse, um nicht gleich beim
ersten Versuch, beim ersten Wort
von dem Mädchen abgewiesen
zu werden.
Das besagte Gedicht war also
vor wenigen Tagen in dem Ma-
gazin „Der violette Kolibri" er-
schienen. Ich trug ein Exemplar
bei mir, nicht etwa, um meine
sämtlichen Bekannten und Ver-
wandten bis in das 27. Glied da-
mit zu beglücken; nein, ich wollte
vielmehr mit Lilfe des selbst ver-
faßten und in abgenützte Reime
gegossenen Anleiters, wie man
zur Liebe kommt, mein Glück bei
den Damen versuchen.
Die praktische Feuerprobe
mußte bestanden werden! Denn
so schön und überzeugend ich auch
gedichtet hatte, so war doch alles
zu nächtlich stiller und einsamer
Stunde aus der Phantasie ge-
nommen worden und nicht aus
dem Leben.
Mein Exemplar des „Violet-
ten Kolibris" in der Tasche, nahm
ich auf einer Bank im Stadtpark
Platz. Die Sonne leuchtete auf
das vergoldete Standbild des
Mustkzauberers Johann Strauß;
ich sah darin ein gutes Vorzeichen.
378
Ich saß am äußersten Ende der Bank. Am anderen Ende saß ein
Mädchen, über das ich nächstens Verse schreiben werde. Ich über-
dachte mein Gedicht und faßte bebend den Entschluß, nach meiner
in Versen gegebenen Methode Anknüpfungen zu versuchen. Aber ich
fand keinen Mut. Ich nahm mir vor, leise bis hundert zu zählen
und dann das Mädchen anzusprechen. Ich kam bis vierundneunzig;
ich brauchte dazu fünf Minuten; denn ich zählte sehr langsam. Bei
fünfundneunzig kam ein junger, eleganter Lerr und setzte sich zwischen
mich und das Mädchen. And welcher Zufall, besser: welche Bosheit
des Schicksals! Der Lerr hielt den neusten „Violetten Kolibri" in
der Land. Ich wünschte den jungen Mann in jenes Land, wo die
Kolibris frei herumfliegen. Mein Wunsch ging nicht in Erfüllung,
vielmehr schlug der junge Mann
den „Violetten Kolibri" auf und
begann zu lesen; ich hörte ganz
deutlich, daß er meine Verse
holprig skandierte. Plötzlich lachte
er laut auf, er machte Ausrufe,
für die ich ihn am liebsten er-
würgt hätte, und wandte sich un-
vermittelt an mich:
„Verzeihen Sie, mein Lerr,
daß ich Sie etwas frage! Sie sehen
intelligent aus. Sie haben doch
Zeit?"
Ich nickte. „Bitte, fragen Sie
immerhin!" Ich schluckte einen
Tiernamen in mich hinein.
„Laben Sie schon den neuesten
Violetten Kolibri gelesen?"
Ich verneinte und schob mein
Exemplar noch tiefer in die
Tasche.
„Da steht ein Gedicht über
die Liebe; es will Anleitungen
geben, wie man sich den Mädchen
nähern soll ... Nein, zu dumm,
zu lächerlich! Als ob heutzutage
die Sache so schwer wäre! Lören
Sie nur!" And er las mir mein
Gedicht vor. Ich bemerkte, daß
das Mädchen neugierig zuhörte
und vor sich hinlächelte. Biswei-
len lachte es voll heraus. Ich
wollte in den Boden versinken;
ich versank nicht, ich Feigling
lächelte sogar mit! Ich lächelte
„Großartig! Du kannst jetzt aufhören, Liebling; der Zweck ist
erreicht, der letzte Gast ist eben gegangen!"
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Großartig!"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1942
Entstehungsdatum (normiert)
1937 - 1947
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 197.1942, Nr. 5081, S. 378
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg