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LAKRITZEN
Von Alfred Richter
Zn der Apotheke zum Goldenen Einhorn war ein Riesenbetrieb.
Es wimmelte in der Offizin von Landleuten und Fabrikarbeitern,
denn es war die Nachmittagsstunde, da die Werke Schichtwechsel
hatten, die Dörfler aber wieder sich auf den Leimweg machen mußten
nach ihren Besorgungen im Städtchen. Der Apotheker Mächtlein
war überdies krank, und alle Last lag auf seinem Schwager, dem
Provisor Lonig. Der dicke Mann sauste hinter seinem Verkaufstisch
hin und her, puterroten Kopfes und kurzatmig, auch nicht sonderlich
wohlgelaunt, denn für zwei Kunden, die aus dem Laden sich hinaus-
zwängten, schoben sich drei neue herein. Es war ein wahrhaftiges
Volksgetümmel. Lonig hatte sich schon wiederholt an der Kontroll-
kasse verrechnet, weil zuviele Fragen und Wünsche vor ihm durch-
einanderschwirrten. Einen schrägen Blick warf er auf die drei Buben,
die jetzt an der Reihe waren und als kleine Phalanx dicht vor die
Theke gepreßt standen. Mit dem kecken Freimut derer, die wissen,
daß sie ja doch angeschnauzt werden, da ihr Anliegen nicht ernst ist,
schauten sie zu dem großen, schweren Mann auf, dem Treppensteigen
und jegliche ähnliche Leibesübung verhaßt war, seiner Körperfülle
wegen, und den man nun dennoch,
wohl oder Übel, die Stehleiter
hinaufjagen mußte, dieweil es
sich um den Ankauf von Lakritzen
handelte; die aber waren in
einer, den Buben schon bekannten
Büchse verwahrt, und die Büchse
stand — bequem war das frei-
lich nicht für den Bedienenden
— dort oben auf dem hohen
Schrank an der Ecke vorn links,
man konnte die Aufschrift „Lakri-
tzen" von ferne lesen, und eigent-
lich wurde das Zeug ziemlich oft
verlangt. Es war unbegreiflich,
warum Apotheker Mächtlein sich
die Dose nicht handlicher stellte.
Sein Schwager und Provisor
aber war eine konservative Na-
tur und änderte von sich aus nie
etwas an einer Ordnung, die er
einmal vorgefunden hatte. Es
kam hinzu, daß er die Amständ-
lichkeit, und allerdings auch die
Gewissenhaftigkeit, in Person
war. Eben deshalb brauchte
er so viel Zeit mit dem Abferti-
gen der Kunden. Aber für einen
Apotheker ist ja die Genauigkeit,
338
ja sogar eine gewisse Pedanterie etwas Rühmenswertes und paßt
durchaus zu feinem Fach, in dem es gar nicht peinlich genug her-
gehen kann.
„Also, was willst denn du?" fragte Provisor Lonig den ersten
der drei, den Karl.
„Für einen Groschen Lakritzen," antwortete der Knabe der Wahr-
heit gemäß, denn er wollte wirklich nichts Wichtigeres als diese
Näscherei.
Indessen, Auftrag ist Auftrag, und Provisor Lonig schnauzte
keineswegs, wie alle drei Buben erwartet hatten — und wie es
Apotheker Mächtlein, wäre er selber zur Stelle gewesen, vielleicht
auch an ihnen ausgeübt hätte, denn er war etwas cholerisch —,
sondern schob die hohe, spitze Leiter heran, lehnte sie, wenn auch
aufseufzend, an den Schrank und klomm empor, ergriff die Lakritzen-
büchse und kletterte wieder herab, öffnete sie, langte hinein, holte
die gewünschte Menge heraus, schloß die Büchse, stieg die Leiter
empor und brachte die Lakritzendose wieder an ihren Ort. Danach
kam er herunter, wickelte die Lakritzen ein, empfing den Groschen,
ging zur Kasse, ordnete die Sache
und fragte dabei, über feine
Brille hinweg auf den zweiten
Knaben, auf Erwin schielend:
„And was kriegst dann du?"
„Auch für einen Groschen La-
kritzen," erklärte Erwin, ohne sich
zu fürchten.
Etliche der Kunden lachten,
andere murrten, ein alter Mann
schimpfte laut über solche Laus-
buben. Provisor Lonig riß die
Augenbrauen hoch und wurde
sehr knapp in seiner Ausdrucks-
weise. „And du?" fragte er, wie
ein Feldherr vorausschauend, vor-
sichtig, aber sehr streng gleich den
dritten, den Eduard: „And du?
Auch für'n Groschen Lakritzen
natürlich? Wie?"
„Nein!" rief Eduard entrüstet,
„gar nicht!"
„Dann entschuldige," sagte
Provisor Lonig nicht ohne billi-
gen Spott, holte die Leiter her,
stieg empor und holte für Erwin
die Groschenmenge Lakritzen
herab, packte sie ein, empfing
das Geld, tat es in die Kontroll-
LAKRITZEN
Von Alfred Richter
Zn der Apotheke zum Goldenen Einhorn war ein Riesenbetrieb.
Es wimmelte in der Offizin von Landleuten und Fabrikarbeitern,
denn es war die Nachmittagsstunde, da die Werke Schichtwechsel
hatten, die Dörfler aber wieder sich auf den Leimweg machen mußten
nach ihren Besorgungen im Städtchen. Der Apotheker Mächtlein
war überdies krank, und alle Last lag auf seinem Schwager, dem
Provisor Lonig. Der dicke Mann sauste hinter seinem Verkaufstisch
hin und her, puterroten Kopfes und kurzatmig, auch nicht sonderlich
wohlgelaunt, denn für zwei Kunden, die aus dem Laden sich hinaus-
zwängten, schoben sich drei neue herein. Es war ein wahrhaftiges
Volksgetümmel. Lonig hatte sich schon wiederholt an der Kontroll-
kasse verrechnet, weil zuviele Fragen und Wünsche vor ihm durch-
einanderschwirrten. Einen schrägen Blick warf er auf die drei Buben,
die jetzt an der Reihe waren und als kleine Phalanx dicht vor die
Theke gepreßt standen. Mit dem kecken Freimut derer, die wissen,
daß sie ja doch angeschnauzt werden, da ihr Anliegen nicht ernst ist,
schauten sie zu dem großen, schweren Mann auf, dem Treppensteigen
und jegliche ähnliche Leibesübung verhaßt war, seiner Körperfülle
wegen, und den man nun dennoch,
wohl oder Übel, die Stehleiter
hinaufjagen mußte, dieweil es
sich um den Ankauf von Lakritzen
handelte; die aber waren in
einer, den Buben schon bekannten
Büchse verwahrt, und die Büchse
stand — bequem war das frei-
lich nicht für den Bedienenden
— dort oben auf dem hohen
Schrank an der Ecke vorn links,
man konnte die Aufschrift „Lakri-
tzen" von ferne lesen, und eigent-
lich wurde das Zeug ziemlich oft
verlangt. Es war unbegreiflich,
warum Apotheker Mächtlein sich
die Dose nicht handlicher stellte.
Sein Schwager und Provisor
aber war eine konservative Na-
tur und änderte von sich aus nie
etwas an einer Ordnung, die er
einmal vorgefunden hatte. Es
kam hinzu, daß er die Amständ-
lichkeit, und allerdings auch die
Gewissenhaftigkeit, in Person
war. Eben deshalb brauchte
er so viel Zeit mit dem Abferti-
gen der Kunden. Aber für einen
Apotheker ist ja die Genauigkeit,
338
ja sogar eine gewisse Pedanterie etwas Rühmenswertes und paßt
durchaus zu feinem Fach, in dem es gar nicht peinlich genug her-
gehen kann.
„Also, was willst denn du?" fragte Provisor Lonig den ersten
der drei, den Karl.
„Für einen Groschen Lakritzen," antwortete der Knabe der Wahr-
heit gemäß, denn er wollte wirklich nichts Wichtigeres als diese
Näscherei.
Indessen, Auftrag ist Auftrag, und Provisor Lonig schnauzte
keineswegs, wie alle drei Buben erwartet hatten — und wie es
Apotheker Mächtlein, wäre er selber zur Stelle gewesen, vielleicht
auch an ihnen ausgeübt hätte, denn er war etwas cholerisch —,
sondern schob die hohe, spitze Leiter heran, lehnte sie, wenn auch
aufseufzend, an den Schrank und klomm empor, ergriff die Lakritzen-
büchse und kletterte wieder herab, öffnete sie, langte hinein, holte
die gewünschte Menge heraus, schloß die Büchse, stieg die Leiter
empor und brachte die Lakritzendose wieder an ihren Ort. Danach
kam er herunter, wickelte die Lakritzen ein, empfing den Groschen,
ging zur Kasse, ordnete die Sache
und fragte dabei, über feine
Brille hinweg auf den zweiten
Knaben, auf Erwin schielend:
„And was kriegst dann du?"
„Auch für einen Groschen La-
kritzen," erklärte Erwin, ohne sich
zu fürchten.
Etliche der Kunden lachten,
andere murrten, ein alter Mann
schimpfte laut über solche Laus-
buben. Provisor Lonig riß die
Augenbrauen hoch und wurde
sehr knapp in seiner Ausdrucks-
weise. „And du?" fragte er, wie
ein Feldherr vorausschauend, vor-
sichtig, aber sehr streng gleich den
dritten, den Eduard: „And du?
Auch für'n Groschen Lakritzen
natürlich? Wie?"
„Nein!" rief Eduard entrüstet,
„gar nicht!"
„Dann entschuldige," sagte
Provisor Lonig nicht ohne billi-
gen Spott, holte die Leiter her,
stieg empor und holte für Erwin
die Groschenmenge Lakritzen
herab, packte sie ein, empfing
das Geld, tat es in die Kontroll-
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Hast du ne Briefmarke einstecken, Fritz?"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1943
Entstehungsdatum (normiert)
1938 - 1948
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 198.1943, Nr. 5107, S. 338
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg