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Insel Wilrkcn's Keller.
lSchluß.)
Ich kann Euch sagen, Kinder, daß mir nun ordentlich
1 wie auf eine verzauberte Insel zu Muthe wurde! Ich glaubte
unter in Thiere verwandelte Menschen zu sein! In tiefe Ehr-
erbietignng nahi» ich meine Mütze in Gedanken ab, vor die
Ausdauer und das Genie, womit mein Landsmann Or.
W.diese Bestien auf eine solche hohe Höhe von feine
Bildung abgerichtet hatte! Seinen theuren Leichnam suchte
ich überall; aber vergebens! Endlich fand ich eines Tages,
wo ich sein Tagebuch durchlas, welches er vom ersten Tag,
wie er auf die Insel kam bis an seinen Sterbetag gewissen-
haft führte, eine Stelle, die mir auf die Sprünge half!"
— „Also ein Tagebuch hat Or, W, , . , geführt?" fragt
Schiffsmackler H,..,, „das solltest Du in den Buchhandel
bringen — lieber Wehncke!" — „Das will ich auch mein
! Junge! aber es sind noch Familien-Rücksichten dabei zu nehmen.
Er hat eine verheirathete Schwester an einen Bäckermeister,
. und eine Tante, die Schiffbanmeisterswittwe in Altona ist,
die das übel nehmen könnten. So könnte ich ihn vielleicht
schaden. Wenn nun die Schiffbaumeisters-Wittwe ihn ent-
erbt? Nein, ich warte noch, bis sie tobt sind, daun gebe ich
dieses merkwürdige Buch raus, welches für alle Stände von
großem Nutzen sein wird. Ich habe da ausgezeichnete Rezepte
drin gefunden!" — „Aber seine Leiche, Wehncke, seine Leiche!"
mahnt G,, ,.! — „Geduld Kinders! Ja, eines Tages lese ich
in sein Tagebuch, wo er wieder über seine Amalie spricht! —
Kinder, dieser Mann ist furchtbar behandelt worden! Was hat
dieser Mann durch diese Natter gelitten, die er an seinen Busen
aufzog! Denkt Euch nur! Auf einen Ball in die Erholung
belauscht er sie, wie sie gerade zu einem Ladenschwengel jene
fürchterliche Worte sagt, die ihn so namenlos elend machten.
Es ist schrecklich! Man möchte einen Haß gegen das
ganze Geschlecht kriegen! Denkt Euch, seine verlobte Braut,
schon das zweite Mal aufgeboten, schon die Meubel bestellt
— da- war ihm zu viel. Doch lassen wir Or. W , . . selber
reden! Er sagt in sein Tagebuch: „Amalie — dieß durch-
schnitt meine Seele! Käme jemals eine Stunde in Deinen
Leben, wo Tn meine Schmerzen fühlst, dann mußt Du fürchter-
lich leiden! — Tann wirst Tu vergebens meinen Namen
rufen — doch ich verzeihe Dir, Amalie! — O Amalie,
jene fürchterliche Worte in die Erholung — jene Worte,
wovon jedes ein Schlangenbiß für mein treues Herz >var!"
— Er muß fürchterlich gelitten haben! — „Nun, was waren
denn das für fürchterliche Worte? Wehncke!" meinte G,.!
„Ja Bruder, ich möchte es auch wohl wissen und habe das
ganze Tagebuch durchgesucht und genau studirt, ich kann es
auswendig. Bei alle Stellen, wo er von diese fürchterliche
Worte schreibt, sind sie entiveder ausgestrichen, oder von seine
heiße Thränen ganz verwischt: aber er muß furchtbar gelitten
haben!" — „Ja wohl, aber die Leiche Wehncke?" — „Ja,
in ein Kapitel von sein Tagebuch finde ick eine Stelle, die
mir auf die ricktige Fährte brachte, Ta stand: „Hinter
mein Bette, genau drei Fuß von der Erde findet sich in
der Tapete eine Thür, >vo man in mein Todtenzimmer kommt,
wo meine sterblichen Ueberreste als Leiche sind!" — Ich
suche und tappe an die Tapetenivand, nehme einen Zollstock,
messe nordlvestlich drei Fuß, vergebens, südlich drei Fuß,
vergebens. Endlich Ost-Süd-Ost, oben am Kopfende von
sein Bett finde ich die Feder, Die Thür springt ans! Ich
| stehe starr vor Entsetzen, wie angemauert auf die Schwelle!
Vor mich liegt auf ein Sopha ein blühender junger Mann
in Schlafrock un Pantoffeln! 0r. W,, , . praktischer Arzt
und Geburtshelfer ans Hamburg! Seine rechte Hand hing
schlaff herab und hielt krampfhaft eine Lanzette; ein klei-
nes Fläschchen lag an der Erde! Endlich ermannte ich mich,
trat näher zu meinen verschiedenen Wohlthäter und drücke ihm
die Augen zu! Auf seiner Brust lag ein Zettelchen, darauf
stand: „Dieses bin ich, Or, W, ., ., praktischer Arzt und Ge-
burtshelfer aus Hamburg! Amalie, ich verzeihe Dir! Dank
meiner Kunst, meine irdischen Ueberreste toerden nun in hei-
mathlichen Boden ruhen! Tank Dir, redlicher Finder. Dank!"
Da lag er eine Leiche, blühend, ein Lächeln umspielte seinen
sanften Mund!" — „Blühend, sagst Du, Wehncke?" — „Ver-
steht sich — er hatte sich nämlich selber einbalsamirt, tvar eine
wohlriechende Mumie! Seine rechte Hand ivar blos etwas ein-
geschrumpft I — Bon diese Stunde an litt es mir aber nicht
mehr auf diese wüste Insel! Trauernd ging ich alle Tage ans
den Stintfaug und sah, ob ein Schiff vorbeisegelte!" — „Der
Stiutfang? Wehncke, war denn auf der Insel, wie in Ham-
burg, ein Stintfaug?" fragt G .... — „Dummer Kerl, Or.
W , .. . hatte aus Anhänglichkeit an Haniburg alle Plätze so
benannt, die ihm von Hamburg her theuer waren — so auch
die ganze Insel „Wilckens-Keller!" — Also eines Tages stehe
ich auf den Stintfaug und sehe ein Segel! Meine Freude war
grenzenlos, Kinder! Ich ziehe schnell die Nothflagge auf, brenne
einen Böller los, dann den andern Böller und so den dritten
Böller, die gerade geladen zur Feier des Tages neben mich
standen, denn es Ivar der achtzehnte Oktober. — Das Schiff
bemerkte meine Nothflagge und Böllerschüsse! — Zn meine
Insel Wilrkcn's Keller.
lSchluß.)
Ich kann Euch sagen, Kinder, daß mir nun ordentlich
1 wie auf eine verzauberte Insel zu Muthe wurde! Ich glaubte
unter in Thiere verwandelte Menschen zu sein! In tiefe Ehr-
erbietignng nahi» ich meine Mütze in Gedanken ab, vor die
Ausdauer und das Genie, womit mein Landsmann Or.
W.diese Bestien auf eine solche hohe Höhe von feine
Bildung abgerichtet hatte! Seinen theuren Leichnam suchte
ich überall; aber vergebens! Endlich fand ich eines Tages,
wo ich sein Tagebuch durchlas, welches er vom ersten Tag,
wie er auf die Insel kam bis an seinen Sterbetag gewissen-
haft führte, eine Stelle, die mir auf die Sprünge half!"
— „Also ein Tagebuch hat Or, W, , . , geführt?" fragt
Schiffsmackler H,..,, „das solltest Du in den Buchhandel
bringen — lieber Wehncke!" — „Das will ich auch mein
! Junge! aber es sind noch Familien-Rücksichten dabei zu nehmen.
Er hat eine verheirathete Schwester an einen Bäckermeister,
. und eine Tante, die Schiffbanmeisterswittwe in Altona ist,
die das übel nehmen könnten. So könnte ich ihn vielleicht
schaden. Wenn nun die Schiffbaumeisters-Wittwe ihn ent-
erbt? Nein, ich warte noch, bis sie tobt sind, daun gebe ich
dieses merkwürdige Buch raus, welches für alle Stände von
großem Nutzen sein wird. Ich habe da ausgezeichnete Rezepte
drin gefunden!" — „Aber seine Leiche, Wehncke, seine Leiche!"
mahnt G,, ,.! — „Geduld Kinders! Ja, eines Tages lese ich
in sein Tagebuch, wo er wieder über seine Amalie spricht! —
Kinder, dieser Mann ist furchtbar behandelt worden! Was hat
dieser Mann durch diese Natter gelitten, die er an seinen Busen
aufzog! Denkt Euch nur! Auf einen Ball in die Erholung
belauscht er sie, wie sie gerade zu einem Ladenschwengel jene
fürchterliche Worte sagt, die ihn so namenlos elend machten.
Es ist schrecklich! Man möchte einen Haß gegen das
ganze Geschlecht kriegen! Denkt Euch, seine verlobte Braut,
schon das zweite Mal aufgeboten, schon die Meubel bestellt
— da- war ihm zu viel. Doch lassen wir Or. W , . . selber
reden! Er sagt in sein Tagebuch: „Amalie — dieß durch-
schnitt meine Seele! Käme jemals eine Stunde in Deinen
Leben, wo Tn meine Schmerzen fühlst, dann mußt Du fürchter-
lich leiden! — Tann wirst Tu vergebens meinen Namen
rufen — doch ich verzeihe Dir, Amalie! — O Amalie,
jene fürchterliche Worte in die Erholung — jene Worte,
wovon jedes ein Schlangenbiß für mein treues Herz >var!"
— Er muß fürchterlich gelitten haben! — „Nun, was waren
denn das für fürchterliche Worte? Wehncke!" meinte G,.!
„Ja Bruder, ich möchte es auch wohl wissen und habe das
ganze Tagebuch durchgesucht und genau studirt, ich kann es
auswendig. Bei alle Stellen, wo er von diese fürchterliche
Worte schreibt, sind sie entiveder ausgestrichen, oder von seine
heiße Thränen ganz verwischt: aber er muß furchtbar gelitten
haben!" — „Ja wohl, aber die Leiche Wehncke?" — „Ja,
in ein Kapitel von sein Tagebuch finde ick eine Stelle, die
mir auf die ricktige Fährte brachte, Ta stand: „Hinter
mein Bette, genau drei Fuß von der Erde findet sich in
der Tapete eine Thür, >vo man in mein Todtenzimmer kommt,
wo meine sterblichen Ueberreste als Leiche sind!" — Ich
suche und tappe an die Tapetenivand, nehme einen Zollstock,
messe nordlvestlich drei Fuß, vergebens, südlich drei Fuß,
vergebens. Endlich Ost-Süd-Ost, oben am Kopfende von
sein Bett finde ich die Feder, Die Thür springt ans! Ich
| stehe starr vor Entsetzen, wie angemauert auf die Schwelle!
Vor mich liegt auf ein Sopha ein blühender junger Mann
in Schlafrock un Pantoffeln! 0r. W,, , . praktischer Arzt
und Geburtshelfer ans Hamburg! Seine rechte Hand hing
schlaff herab und hielt krampfhaft eine Lanzette; ein klei-
nes Fläschchen lag an der Erde! Endlich ermannte ich mich,
trat näher zu meinen verschiedenen Wohlthäter und drücke ihm
die Augen zu! Auf seiner Brust lag ein Zettelchen, darauf
stand: „Dieses bin ich, Or, W, ., ., praktischer Arzt und Ge-
burtshelfer aus Hamburg! Amalie, ich verzeihe Dir! Dank
meiner Kunst, meine irdischen Ueberreste toerden nun in hei-
mathlichen Boden ruhen! Tank Dir, redlicher Finder. Dank!"
Da lag er eine Leiche, blühend, ein Lächeln umspielte seinen
sanften Mund!" — „Blühend, sagst Du, Wehncke?" — „Ver-
steht sich — er hatte sich nämlich selber einbalsamirt, tvar eine
wohlriechende Mumie! Seine rechte Hand ivar blos etwas ein-
geschrumpft I — Bon diese Stunde an litt es mir aber nicht
mehr auf diese wüste Insel! Trauernd ging ich alle Tage ans
den Stintfaug und sah, ob ein Schiff vorbeisegelte!" — „Der
Stiutfang? Wehncke, war denn auf der Insel, wie in Ham-
burg, ein Stintfaug?" fragt G .... — „Dummer Kerl, Or.
W , .. . hatte aus Anhänglichkeit an Haniburg alle Plätze so
benannt, die ihm von Hamburg her theuer waren — so auch
die ganze Insel „Wilckens-Keller!" — Also eines Tages stehe
ich auf den Stintfaug und sehe ein Segel! Meine Freude war
grenzenlos, Kinder! Ich ziehe schnell die Nothflagge auf, brenne
einen Böller los, dann den andern Böller und so den dritten
Böller, die gerade geladen zur Feier des Tages neben mich
standen, denn es Ivar der achtzehnte Oktober. — Das Schiff
bemerkte meine Nothflagge und Böllerschüsse! — Zn meine
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Insel Wilcken's Keller"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
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Public Domain Mark 1.0
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Fliegende Blätter, 20.1854, Nr. 469, S. 102
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CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg